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Verfassungsschutzbericht 2016 – Innenminister Stefan Studt: „Lage bleibt angespannt und erfordert hohe Wachsamkeit in alle Richtungen“

KIEL, 15.06.17 – Der islamistische Terrorismus, eine weiter wachsende Zahl von Rechtsextremisten sowie ein deutlicher Anstieg der von Rechts- und Linksextremisten verübten Gewaltstraftaten beschäftigten im vergangenen Jahr die Sicherheitsbehörden in Schleswig-Holstein…

Und auch für die kommenden Monate konnte Innenminister Stefan Studt keine Entwarnung geben. „Die Lage bleibt angespannt und erfordert weiter hohe Wachsamkeit in alle Richtungen“, sagte der Minister bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2016 heute (15.Juni) in Kiel. Vor dem Hintergrund der bundesweiten Entwicklung werde man auch in Schleswig-Holstein ein besonderes Augenmerk auf die Entstehung rechtsterroristischer Strukturen legen, obwohl es dafür bislang keine Anhaltspunkte gebe.

Studt sieht aktuell vor allem Gefahren durch getarnt einreisende Jihadisten. „Diese Form der Bedrohung hat den Verfassungsschutz im vergangenen Jahr in besonderem Maße beschäftigt“, sagte Studt. Weitere Herausforderungen für die innere Sicherheit seien in Deutschland radikalisierte Personen („homegrown terrorists“) sowie Kämpfer, die sich zeitweilig dem sogenannten Islamischen Staat (IS) oder anderen islamistischen Terrororganisationen in Syrien oder dem Irak angeschlossen und für diese gekämpft haben, und die nunmehr nach Deutschland zurückkehren. Außerdem liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass Salafisten nach wie vor versuchen, Migranten für ihre Ideologie zu gewinnen.

Rechtsextremisten werden nach Einschätzung des Ministers trotz rückläufiger Flüchtlingszahlen weiter mit rassistisch geprägten Vorurteilen gegen Ausländer und Flüchtlinge hetzen, soziale und wirtschaftliche Ängste schüren und das Bedrohungsszenario einer angeblichen Islamisierung Europas an die Wand malen. Wo diese Strategie nicht mehr verfange, versuchten Rechtsextremisten über den Umweg rechtspopulistischer Standpunkte Anschluss in der Mitte der Bevölkerung zu gewinnen. „Das klingt dann alles nicht so radikal, bleibt aber im Kern rechtsextremistisch“, warnte Studt.

Ein aufwachsendes Problem stellt nach Aussage des Ministers die Reichsbürgerbewegung dar. Reichsbürger hätten eine verhältnismäßig hohe Affinität zu Waffen. Deshalb teile der Verfassungsschutz Schleswig-Holstein alle gerichtsverwertbaren Erkenntnisse zu Reichsbürgern mit waffenrechtlichen Erlaubnissen unmittelbar an die zuständigen Waffenbehörden mit, damit dort die waffenrechtliche Zuverlässigkeit geprüft und gegebenenfalls Erlaubnisse entzogen werden könnten. Im Umgang mit Reichsbürgern gelte in besonderem Maße eine Null-Toleranz-Strategie. „Wer meint, die Bundesrepublik Deutschland sei kein Staat und die Gesetze daher null und nichtig, dem werden wir beweisen, dass das Gegenteil der Fall ist “, sagte Studt.

Für Linksextremisten werde der G20-Gipfel am 7. und 8. Juli in Hamburg der Hauptagitationsschwerpunkt dieses Jahres sein. „Ich rechne damit, dass dazu auch gewaltorientierte Autonome aus Schleswig-Holstein anreisen werden“, sagte Studt. Massive Ausschreitungen und Gewalttaten seien nicht auszuschließen. „Teile der linksextremistischen Szene zeichnen sich nach wie vor durch eine hohe Aktions- und Gewaltbereitschaft aus“, sagte Studt.

Die Sicherheitslage in den Extremismusfeldern stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

Islamismus

Das islamistische Personenpotenzial hat sich 2016 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 19 Prozent von 370 auf 440 Personen erhöht. Dies ist vor allem auf die Steigerung des Salafismuspotenzials zurückzuführen, das im Berichtsjahr um 23 Prozent auf 370 Personen angestiegen ist. Auch Minderjährige lassen sich zunehmend von der Ideologie islamistischer Terrororganisationen vereinnahmen.

Nach Einschätzung des Abteilungsleiters Verfassungsschutz, Dieter Büddefeld, wird die terroristische Gefährdungslage maßgeblich von drei Faktoren bestimmt: Der Gefährdung durch getarnt einreisende Jihadisten („Schläferzellen“), Kriegs-Rückkehrer und sogenannte „homegrown terrorists“. Aufgrund des militärischen und wirtschaftlichen Niedergangs des sogenannten „Islamischen Staates“ müsse mit einer erhöhten Anschlagswahrscheinlichkeit gerechnet werden.

Wie real die Gefahr durch getarnt einreisende Jihadisten ist, wurde für die Öffentlichkeit vor allem durch die fünf islamistisch motivierten Anschläge deutlich, die sich 2016 bundesweit ereigneten. Dass auch Schleswig-Holstein im Zielspektrum islamistischer Terrororganisationen liegt, zeigte sich am 13. September 2016. An diesem Tag wurden an drei Orten im Land mutmaßliche Angehörige des sogenannten Islamischen Staates (IS) festgenommen, die als Flüchtlinge getarnt eingereist waren.

Darüber hinaus geht der Verfassungsschutz derzeit einer höheren zweistelligen Zahl von Fällen nach, bei denen der Verdacht besteht, dass Personen in ihren Heimatländern Kontakte zu terroristischen Organisationen unterhalten. Keine Entwarnung gibt es bei islamistisch motivierten Reisebewegungen. So hat sich in Schleswig-Holstein die Zahl der Ausreisefälle – nach einer deutlichen Abnahme im Vorjahrsvergleich – im Berichtszeitraum wieder leicht von vier auf fünf erhöht.

Rechtsextremismus

2016 ist das rechtsextremistische Personenpotenzial um vier Prozent auf nunmehr rund 1.350 Personen erneut angewachsen. Parallel dazu nahm auch die Zahl der Politisch motivierten Kriminalität -rechts- um 145 auf insgesamt 785 Straftaten zu. Darunter waren 66 Gewaltstraftaten, ein Anstieg um 28 Fälle im Vergleich zum Vorjahr. Die Steigerung der Gewalttaten ist überwiegend auf fremdenfeindliche Straftaten im Zusammenhang mit der Anti-Asyl-Agitation zurückzuführen. Dazu passt die Feststellung, dass Rechtsextremisten hauptsächlich mit einer an verbaler Radikalität weiter zunehmenden Anti-Asyl-Agitation aufgefallen sind, insbesondere im Internet.

Besondere Sorge bereitet, dass durch die Sicherheitsbehörden bundesweit mehrere rechtsterroristische Vereinigungen festgestellt werden konnten. In Schleswig-Holstein konnten vom Verfassungsschutz keine Erkenntnisse zu bestehenden rechtsterroristischen Strukturen gewonnen werden. Büddefeld erklärt hierzu: „Vor dem Hintergrund der Erfahrungen zum NSU wird der Verfassungsschutz in SH gerade diesen Bereich mit großer Sorgfalt und Intensität beobachten, um seine Rolle als Frühwarnsystem auch tatsächlich ausüben zu können.“

Daneben meldeten sich aber auch vermehrt Personen der „Neue Rechte“-Strömung zu Wort. Maßgeblicher Protagonist ist die „Identitäre Bewegung“. Der Kern neurechter Ideologie ist ein sogenannter Kulturkampf, bei dem vor einer drohenden „Umvolkung“, einem „Austausch“ und einer „Durchmischung“ der Kulturen gewarnt wird. Zur Strategie der „Identitären Bewegung“, deren Mitglieder sich selbst als „Ethnopluralisten“ bezeichnen, gehören ein intellektuelles Auftreten und ein modernes Aufbereiten rechtsextremistischer Ideologien. Beides soll darüber hinwegtäuschen, dass ihre Auffassungen gegen wesentliche Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie z. B. der Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und dem Mehrparteienprinzip, verstoßen.

Die Entwicklung im NPD-Landesverband Schleswig-Holstein war rückläufig. Offenbar waren einzelne Kreisverbände selbst nicht mehr handlungsfähig, sodass mehrere Kreisverbände fusionierten. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die NPD nicht zu verbieten, hat der Partei keinen neuen Schwung verliehen. Der Rückhalt der NPD in der Bevölkerung ist weiterhin gering.

Reichsbürgerbewegung

Die Reichsbürgerbewegung hat sich im vergangenen Jahr zu einem Arbeitsschwerpunkt der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern entwickelt. Innerhalb der Reichsbürgerbewegung ist die Bereitschaft, politisch motivierte Gewalt anzuwenden, unterschiedlich stark ausgeprägt.

Insgesamt fehlt es der Reichsbürgerbewegung an klaren gemeinsamen Organisationsstrukturen und Führungsverantwortlichen. Im Berichtsjahr konnten zudem vermehrt Aktivitäten der Reichsbürgerbewegung festgestellt werden. Reichsbürger treten zunehmend verbal aggressiver und renitenter gegenüber Behörden und Öffentlichkeit auf und reagieren auf staatliche Sanktionen zunehmend gewaltbereiter.

Zur Reichsbürgerbewegung zählen u. a. Rechtsextremisten, Verschwörungstheoretiker und Querulanten, die bei Verwaltungsbehörden durch absurde Anliegen und Schriftsätze Verwaltungsabläufe behindern und in einigen Fällen Beschäftigten der Behörden drohen. Aktuell hat der Verfassungsschutz 163 Personen in Schleswig-Holstein als Reichsbürger identifiziert.

Linksextremismus

Mit 670 Personen in 2016 stagnierte das linksextremistische Personenpotential auf dem Niveau des Vorjahres. Dennoch stieg die Zahl der von Linksextremisten verübten Straftaten um 37 Delikte auf insgesamt 237 Fälle an. Darunter waren 67 Gewaltdelikte, ein Anstieg um 44 Fälle. Wesentliche Gründe für den Anstieg der Gesamtstraftatenzahl waren vermehrte Links-Rechts-Konfrontationen bei Demonstrationen sowie der gewalttätige Widerstand gegen die Räumung der Flensburger „Luftschlossfabrik“.

Die linksextremistische Szene konnte weiterhin nicht von den politischen Spannungsfeldern profitieren. Zulauf aus dem bürgerlichen Spektrum für eine planmäßige Mitarbeit gab es faktisch nicht. Das anfangs noch erhebliche Engagement der Linksextremisten für die Flüchtlingshilfe nahm mit dem deutlichen Rückgang der Zugangszahlen ab, ihre öffentliche Präsenz stagnierte seitdem auf niedrigem Niveau.

Die wenigen öffentlichen Impulse gingen insbesondere von den klassischen Autonomen aus. Allgemeine Aktionsschwerpunkte der linksextremistischen Szene waren „Antifaschismus“ in enger Verbindung mit „Antirassismus“. Im Mittelpunkt standen der Kampf gegen die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) und so genannte Outings von vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsextremisten.

Soweit die Szene in „antifaschistischen“ Zusammenhängen aktiv wurde, zeigte sich ihre weiterhin bestehende hohe Aktionsbereitschaft und Gewaltorientierung. Gewalt richtete sich sowohl gegen den politischen Gegner als auch gegen eingesetzte Polizeibeamte. Obwohl Linksextremisten mit dieser Strategie keinen Anschluss im bürgerlichen Lager finden, ist gleichwohl zu beobachten, dass bestimmte Themen eine gewisse Akzeptanz in der Gesellschaft erfahren und im Gegensatz zu rechtsextremistischen Themen weniger als Bedrohung wahrgenommen werden.

Nicht islamistisch motivierter Extremismus mit Auslandsbezug

Erstmals seit Jahren ereigneten sich in Schleswig-Holstein gewalttätige Ausschreitungen am Rand von Demonstrationen mit Türkei-Bezug. Diese Auseinandersetzungen waren dabei kein Produkt zufälliger Begegnungen, sondern wurden von den Angehörigen der gegnerischen Lager – auf der einen Seite Anhänger der türkischen Regierungspolitik, darunter auch türkische Rechtsextremisten, auf der anderen Seite Anhänger der türkischen Opposition, darunter auch Extremisten der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ – bewusst gesucht, provoziert und mit erheblichem Aggressionspotenzial geführt.

Der türkisch-kurdische Konflikt ist der Hauptgrund für den starken Anstieg im Bereich der politisch motivierten Ausländerkriminalität.

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Aussender: Patrick Tiede, Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten (SH)
Redaktion: Torben Gösch