Landeszeitung Lüneburg: „Putin testet die Einheit des Westens“ – Interview mit dem Ukraine-Experten Prof. Dr. Otto Luchterhandt

 

Lüneburg – Der Nervenkrieg um die Krim hält die Welt in Atem. Der renommierte Lüneburger Völkerrechtler Prof. Dr. Otto Luchterhandt hat über zwei Jahrzehnte als Rechtsberater in der Ukraine gewirkt. Er sorgt sich, dass sich Wladimir Putin bei dem Konflikt um die Krim, „einen Verklärungsort der russischen Geschichte“, noch weiter von westlichen Werten entfernt, als er dies in den letzten Jahren ohnehin schon getan hat. Für die deutsche Diplomatie eröffne sich die große Chance, „die Gesprächskanäle in den Kreml offenzuhalten.“

Lebt Putin in einer eigenen Realität, wie die Kanzlerin vermutet, oder bastelt er vielmehr in einer nur im Westen anachronistisch anmutenden Weise an einem Comeback Russlands als Großmacht? Prof. Dr. Otto Luchterhandt: Frau Merkels Einschätzung ist in bemerkenswerter Weise zutreffend. Putin lebt in einer eigenen politischen Welt, die bestimmt ist von dem Ziel, eine „Sowjetunion light“ wiederherzustellen. Genauer strebt er eine russische Hegemonie im territorialen Maßstab der Sowjetunion abzüglich der baltischen Staaten an.

Hätte Russland dem Umsturz in seinem Vorfeld einfach zugucken können?

Prof. Luchterhandt: Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Weil die Ukraine eine Schlüsselstellung in dem Konzept einnimmt, das Putin und die Moskowiter Eliten verfolgen. Der Untergang der Sowjetunion war besiegelt, als die Ukrainer am 1. Dezember 1991 mit 90-prozentiger Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes votiert hatten. Daher würde in Moskau niemand bestreiten, dass ohne die Ukraine die Wiederherstellung russischer Hegemonie nicht zu verwirklichen ist.

Mangelt es dem Westen an Verständnis für Putin? Der Wortbruch bei der NATO-Osterweiterung, Raketenschutzpläne, US-Präsenz in Mittelasien und EU-Avancen an die Ukraine können durchaus reale Ängste ausgelöst haben.

Prof. Luchterhandt: Sicherlich hat der Westen aus Sicht des Kreml in mehreren Fragen rote Linien überschritten. Aber umgekehrt wollte Russland in der Ära Gorbatschow unbedingt einer der Bewohner des europäischen Hauses werden. Es drängte in den Europarat, integrierte sich in vielfältiger Weise. Und das nicht zufällig. Denn Russland hat sich in seiner Verfassung von 1993 sowohl innen- als auch geopolitisch von den sowjetischen Prinzipien losgesagt. Man definierte sich als demokratischer Rechtsstaat, der das Völker- und die Menschenrechte achtet. Damit wendete man sich westlichen Werten zu. Unter Putins Herrschaft entfernt sich Russland allerdings zielstrebig von den Grundsätzen seiner eigenen Verfassung. Insofern hat eher der Westen Anlass, enttäuscht zu sein. In der Tat hat Russland die Intervention des Westens 1999 im Kosovo als schweren Affront angesehen. So wurde der Fünf-Tage-Krieg gegen Georgien 2008 als Revanche gegenüber der NATO gesehen. Die Besetzung der Krim und die Strategie, diese über ein Referendum abzuspalten, gehört aber nur bedingt in diesen Rahmen. Dies ist eher ein Teil des geopolitischen Plans der Renaissance als Großmacht.

Hat die Abspaltung der Krim, die der Ukraine erst 1954 von Chruschtschow geschenkt worden war, nicht sogar einen legitimen Kern? Prof. Luchterhandt: Legitimität hin oder her. Hier ist die Beachtung des universellen Völkerrechtes wichtiger. Russland hat auf der Krim auf der Basis der beiden Verträge vom 28. Mai 1997 – das Abkommen über den Status und die Aufenthaltsbedingungen der Schwarzmeerflotte Russlands und das über die Aufteilung der Objekte der Flotte zwischen der Ukraine und Russland – ohnehin alle Möglichkeiten. Übrigens wurde damals im Verhältnis von 15:85 „geteilt“. Die Stellung seiner Schwarzmeerflotte ist völlig gesichert. Insofern gibt es keinen legitimen Anspruch auf eine Erweiterung seiner Machtsphäre. Die ethnischen Russen sind dort in keiner Weise benachteiligt. Die Krim ist ein Arkadien, ein Verklärungsort russischer Geschichte, vergleichbar in seiner Bedeutung wie das Kosovo für Serbien. Hier häufen sich Zarenpaläste, hier fand 1945 die Konferenz von Jalta statt.

Welche Argumente hat der Westen, wenn die russische Bevölkerungsmehrheit der Krim für die Hinwendung zu Russland stimmt? Was wiegt schwerer: das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Unverletzlichkeit der Grenzen?

Prof. Luchterhandt: Die Krim und Russland können sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen, weil die Krim im Staatsverband der Ukraine eine einmalige, herausgehobene Stellung einnimmt. Die Halbinsel ist die einzige Region, die über einen autonomen Status verfügt. Der Krim wurden sehr viel mehr Rechte eingeräumt als den anderen 24 Provinzen. Völkerrechtlich gilt: Verfügt eine Region über derartig viele Sonderrechte wie die Krim, ist das Recht auf Selbstbestimmung sozusagen verbraucht. Ein Recht auf Sezession kann daher nicht in Betracht kommen.

Muss Washington zu Putins Krim-Intervention schweigen? Im Irak, Afghanistan und Grenada war die territoriale Integrität den USA nicht sakrosankt?

Prof. Luchterhandt: Sie haben Recht und sprechen einen wunden Punkt an. Europäische Staaten wie Deutschland und die USA unterscheiden sich in dem Punkt der Bedeutung des universellen Völkerrechtes sehr deutlich. Die USA vertreten in ununterbrochener Kontinuität die Position, dass sie sich durch das Völkerrecht nicht einengen lassen, wenn ihre nationalen Interessen berührt sind. Seit der Monroe-Doktrin von 1821 schlagen sie dementsprechend gerade in ihrem Vorfeld, in Latein- und Mittelamerika, auch militärisch zu.

Zudem haben sie das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Russland misst sich leider ausschließlich an dem ehemaligen Rivalen, stellt sich dementsprechend auch außerhalb des Völkerrechtes.

Schweigt Berlin weiter für russisches Gas?

Prof. Luchterhandt: Berlin schweigt nicht. Es ist eine bemerkenswerte Änderung, wie etwa Gernot Erler Töne anschlägt, die so vorher von ihm noch nie zu hören waren. Außenminister Steinmeier äußert sich in ähnlicher Weise. Gleichwohl hat die deutsche Diplomatie hier eine große Chance, nämlich dafür zu sorgen, dass die Gesprächskanäle offen bleiben und für eine kritische Auseinandersetzung mit Moskau genutzt werden. Putin testet die Einheit des Westens. Dabei hält er die Trümpfe in der Hand und hat die Karten noch nicht offen gelegt. Er kann jederzeit zurückrudern. Es hängt davon ab, ob es in den nächsten Tagen gelingt, einen Kompromiss zu finden. Dabei muss die Gefahr erstickt werden, dass es in der Ost-Ukraine und im Süden, etwa in Odessa, auch durch spontane Prozesse zu blutigen Ausschreitungen kommt. In der Folge könnte sich Moskau wegen seiner propagandistischen Selbstbindung gezwungen sehen, sich stärker militärisch zu engagieren. Wir haben nur ein kleines Zeitfenster für einen Dialog mit Moskau.

Würden Sanktionen des Westens die Tür für die Diplomatie endgültig zuschlagen?

Prof. Luchterhandt: Es ist richtig, dass man die Entscheidung über Sanktionen so lange wie möglich offenhält, schon allein um die Drohkulisse für die andere Seite aufrechtzuerhalten. Die entscheidende Frage ist aber, wie sich das Tableau der Sanktionen zusammensetzt. Es ist angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung von Deutschland und Russland schwierig, überzeugende Sanktionen zusammenzustellen.

Die Interessengegensätze innerhalb der Ukraine und zwischen Russland und dem Westen scheinen unauflöslich. Droht der Ukraine die Spaltung?

Prof. Luchterhandt: Vorläufig kann diese Frage nicht beantwortet werden, weil alles davon abhängt, wie klug und weise die – hoffentlich noch in diesem Jahr durch vorgezogene Wahlen an die Macht kommende – neue Regierung agieren wird. Ich denke, die Ukraine muss nun in eine Richtung gehen, die bei der letzten Debatte über die Verfassung 1995/96 vehement abgelehnt wurde: der vorsichtige Einstieg in eine Föderalisierung der Ukraine. Die Vernunft spricht dafür, das Gesamtziel der Unveränderlichkeit der Grenzen weiterzuverfolgen. Der Einstieg in die Bundesstaatlichkeit ist im Falle dieses so tief gespaltenen Staates dabei eine noch nicht ausgeschöpfte Ressource.

Das Interview führte Joachim Zießler

Landeszeitung Lüneburg