Köln, 29.10.18 – Das Märchen von der „Denkzettelwahl“ Die Bundesparteien – vor allem die CDU – reagieren hektisch auf die Ergebnisse der hessischen Landtagswahl…
Dabei belegt die aktuelle forsa-Analyse im Auftrag der Mediengruppe RTL: der Einfluss der Bundespolitik auf die Hessenwahl wird weithin überschätzt.
Von Prof. Manfred Güllner
Vergleicht man das Ergebnis der hessischen Landtagswahl mit der Bundestagswahl vor einem Jahr, dann gibt es, wie schon vor zwei Wochen in Bayern, zwei Wahlgewinner – die Grünen und die Freien Wähler. Ansonsten hat diese Wahl nur Verlierer hervorgebracht. Ein Vergleich mit der Landtagswahl 2013 ist ungeeignet, weil sie am Tag der Bundestagswahl stattfand und der damalige „Merkel-Sog“ die Ergebnisse sehr stark beeinflusste.
Die größten Stimmenverluste haben zwei Parteien zu verzeichnen, die zu den größten Kritikern der Großen Koalition in Berlin zählen: Die FDP mit einem Stimmenrückgang von 44 Prozent (ein Minus von 171.000 Stimmen) und die Linke mit einem Rückgang von 34 Prozent (ein Minus von rund 90.000 Stimmen). Die SPD büßte etwas mehr als ein Viertel (27 Prozent bzw. 218.000 Stimmen), die CDU etwas weniger als ein Viertel (24 Prozent oder rund 257.000 Stimmen) ihrer Wähler von vor einem Jahr ein. Weniger und nicht mehr Stimmen als 2017 haben aber bei der Landtagswahl auch die Parteien am äußersten rechten Rand des Parteienspektrums erhalten; der Anteil von AfD und NPD zusammen sank von 411.000 um 26.000 auf 385.000 (ein Wählerschwund von über 5 Prozent).
Mehr Stimmen als bei der Bundestagswahl vor einem Jahr erhielten die Grünen, die ihre Wählerzahl von 324.000 um rund 246.000 auf 570.000 steigern konnte (ein Zuwachs von 78 Prozent). Und die Freien Wähler, die durch ihren Wahlerfolg in Bayern auch bundesweit Aufmerksamkeit erlangten, erhielten 2018 sogar dreimal mehr Stimmen als 2017 (85.000 Stimmen im Vergleich zu 29.000).
Allein diese Wählerbewegungen zwischen 2017 und 2018 relativieren die simple These von der „Denkzettelwahl“, mit der die Parteien der Großen Koalition abgestraft werden sollten; denn die Verluste der FDP, der Linke und der rechtsradikalen Parteien haben ja wenig mit dem Zustand der Großen Koalition in Berlin zu tun. Und wie immer wussten auch die Hessen, dass es bei dieser Wahl nicht um die Mehrheit im Bundestag, sondern um die im Landtag von Wiesbaden ging und um die Frage, wer Ministerpräsident bleiben oder werden soll. Merkels Kanzlerschaft stand hier nicht zur Wahl. Noch mehr Hessen (59 %) als Bayern (52 %) haben dann auch angegeben, dass der Zustand der Parteien im Land für ihre Wahlentscheidung wichtiger sei als die Bundespolitik. Wie in Bayern haben nur 12 Prozent der Hessen angegeben, die Politik in Berlin sei für ihre Wahlentscheidung entscheidend gewesen. Von den Wählern der beiden Berliner Koalitionsparteien CDU und SPD gaben sogar fast drei Viertel (73 bzw. 77%) an, dass die Landespolitik für ihre Wahlentscheidung wichtiger als die Berliner Politik gewesen sei.
Bei einer forsa-Befragung am Wahltag gaben nur 8 Prozent der CDU-Abwanderer – also jene, die 2017 der CDU ihre Stimme gegeben hatten, bei der gestrigen Landtagswahl aber nicht – die Große Koalition oder die Kanzlerin als Grund für ihren Wechsel an. Die Frage wurde ohne Vorgabe gestellt, im Unterschied zu jener Frage, die derzeit fälschlicherweise das politische Handeln nach der Wahl derart stark prägt, wonach „die Landtagswahl doch eine gute Gelegenheit sei, um der Großen Koalition einen Denkzettel zu verpassen“. Ohne derartige Vorgaben äußerten die CDU-Abwanderer ganz andere Gründe, die sie zur Abkehr bewegt haben – vor allem Unzufriedenheit mit der Wohnungs-, Schul- und Verkehrspolitik. Weitere wichtige Gründe: Unmut über politische Akteure – vor allem in der CSU-Spitze, die trotz der bayerischen Wahlniederlage keinerlei Konsequenzen gezogen hatten. Viele gaben zudem einer anderen Partei den Vorzug, vor allem den Grünen, die von gut 40 Prozent der CDU-Abwanderer gewählt wurden.
Die hessische CDU verlor zudem auch deshalb Wähler an die Grünen und die Freien Wähler, weil die Partei von Angehörigen der eher liberalen Mitte als zu rechts eingestuft wird – ein Erbe, dass Roland Koch hinterließ. So kommt es, dass die CDU-Abwanderer sich auf einer Links-Rechts-Skala deutlich näher in der politischen Mitte verorten als die CDU-Stammwähler. Umgekehrt wird die hessische SPD von Angehörigen der politischen und gesellschaftlichen Mitte als zu links bewertet: So verorten sich die SPD-Abwanderer in der Mitte als die SPD-Stammwähler. Und dass die Grünen in der politischen Mitte Fuß fassen, zeigt sich auch daran, dass die „Neu“-Grünen, die bei der Landtagswahl zu den Grünen gestoßen sind, sich ebenfalls deutlich häufiger in der Mitte verorten als die Stammwähler, die sich traditionell eher im linken politischen Spektrum sehen.
Rechts ist nicht die erste Wahl
Das Ergebnis der hessischen Landtagswahl zeigt überdies ein weiteres Mal, dass die AfD keinesfalls – wie etwa ein „Leitmedium“ wie der „Spiegel“ wiederholt unterstellte – „die Republik erschüttert“ und „die Tür in ein neues politisches Zeitalter eröffnet“ hat. Denn die AfD profitiert nicht in erster Linie vom zweifelsohne vorhandenen Unmut über die Art und Weise, wie manche politische Akteure Politik betreiben, sondern bündelt neben den bisherigen Wählern rechtsradikaler Parteien wie der NPD jene Dauernichtwähler, die wegen ihrer generellen Verachtung des politischen Systems bisher nicht zur Wahl gingen, sowie das latent immer vorhandene Potential derer, die für rechtsradikales Gedankengut anfällig sind und sich bislang hinter anderen Parteien versteckt hatten. Der Unmut über die einstigen „Volksparteien“ führt somit nicht zu einer immer größeren Zahl von AfD-Wählern, sondern äußert sich in größerer Wahlenthaltung, was auch schon lange zu erkennen war, bevor es die AfD gab. Und bei der hessischen Landtagswahl zeigt sich wie schon in Bayern, dass Verluste der Union und der SPD nicht in erster Linie die AfD stärken, sondern zu großen Teilen aufgefangen werden durch die FDP oder aktuell die Grünen. Das politische System an sich zeigt sich trotz des Vertrauensschwundes von CDU und SPD und trotz des Aufkommens der AfD weitgehend stabil.
Trotz allem: Die Mitte bleibt stabil
Dass der Vertrauensschwund der hessischen SPD nicht auf den aktuellen Zustand der Großen Koalition in Berlin zurückgeführt werden kann, zeigt sich auch am langfristigen Verlauf der Stimmenanteile der SPD. So ging das Vertrauen zur hessischen SPD in ihrem einstigen Stammland schon bei den Landtagswahlen 1991, 1995 und vor allem 2003 drastisch zurück. Dass in erster Linie die Hessen-SPD Vertrauen einbüßte, zeigen die deutlich höheren Wähleranteile der SPD bei den Bundestagswahlen zwischen 1994 und 2005. Und auch die Vertrauensverluste der CDU sind schon lange vor 2018 zu registrieren – nur kurzfristig durch „Ausnahmewahlen“ wie 2003 (große Mobilisierung nach der verlorenen Bundestagswahl 2002) oder 2013 („Merkel-Sog“) unterbrochen. Auch dieser Langzeitvergleich zeigt, dass die mit der SPD Unzufriedenen nicht ins Lager radikaler Parteien wanderten, sondern zu demokratischen Parteien (vor allem zu den Grünen) auswichen oder gar nicht zur Wahl gingen.
Die hessische Landtagswahl als bloße „Denkzettelwahl“ einzustufen, wird alles in allem weder der historischen Entwicklung des Wahlverhaltens in Hessen noch dem am Sonntag erkennbaren Willen der hessischen Wähler gerecht.
Aussender: Alessia Gerkens, Dr. Peter Matuschek, RTL/n-tv-Trendbarometer
Redaktion: Torben Gösch