Gütersloh, 27.09.18 – Medizinische Fachgesellschaften, Krankenhäuser und ihre Verbände schlagen Alarm: ein Urteil des Bundessozialgerichts gefährdet nach ihrer Auffassung die Versorgung von Schlaganfall-Patienten in Deutschland. Auch die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe sorgt sich, dass die aktuelle Auseinandersetzung zu einer Entwicklung führen könnte, die am Ende Menschenleben kostet…
Die Materie ist komplex und hat eine lange Vorgeschichte. Die Deutsche Schlaganfall-Hilfe feiert in diesem Jahr ihr 25jähriges Jubiläum. In dieser Zeit hat sich in Deutschland die Sterblichkeit nach Schlaganfall fast halbiert. Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die nach Ansicht der Stiftung dafür verantwortlich sind: zum einen hat die unermüdliche Aufklärungsarbeit dazu geführt, dass viel mehr Menschen einen Schlaganfall erkennen und rechtzeitig in die Klinik kommen. Zum anderen verfügt Deutschland heute über eine hervorragende Akut-Versorgung.
Stroke Units sind ein Erfolgskonzept
1994 eröffnete in Essen die erste Stroke Unit Deutschlands. Das Konzept dieser Schlaganfall-Spezialstationen hat sich in den Jahren danach weltweit durchgesetzt. Bis heute hat die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe gemeinsam mit der wissenschaftlichen Fachgesellschaft, der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft, bundesweit 320 dieser Stroke Units zertifiziert. Die Stationen zeichnen sich aus durch besonders qualifiziertes Personal und apparative Ausstattungen wie CT oder MRT. Beides – kompetentes Personal und adäquate Technik – müssen quasi rund um die Uhr verfügbar sein.
Unterschieden werden bei der Zertifizierung zwei Versorgungsstufen. Regionale Stroke Units sind angemessen ausgestattet für die Diagnostik und die Behandlung der überwiegenden Zahl von Patienten. Überregionale Stroke Units verfügen darüber hinaus über zusätzliche Behandlungsoptionen in einer Neuroradiologie oder Neurochirurgie, die für weniger als zehn Prozent der Patienten benötigt werden. Stellen Ärzte in einer regionalen Einheit die Notwendigkeit eines solchen Eingriffes fest, verlegen sie den Patienten umgehend in das nächstgelegene größere Schlaganfall-Zentrum.
Abkehr von der alten Regelung
Dieses Modell hat sich in Deutschland über viele Jahre bewährt und hat zuletzt auch in Europa Standards gesetzt. Für die Behandlung von Schlaganfall-Patienten werden regionale Stroke Units im Rahmen einer so genannten OPS-Komplexbehandlung besonders vergütet. Gekoppelt ist diese Vergütung an bestimmte Leistungskriterien. Unter anderem müssen die Stationen Patienten innerhalb von 30 Minuten in ein überregionales Zentrum verlegen können. Dabei zählt – so wurde es bisher gehandhabt – die Zeit zwischen Beginn und Ende des Rettungstransportes im Krankenwagen oder Hubschrauber.
Das Bundessozialgericht Kassel hat diese Regelung mit einem Urteil vom 19. Juni 2018 nun in Frage gestellt. Nach Ansicht des Gerichts müsse sich die 30-Minuten-Regel auf die Zeit von der Entscheidung zur Verlegung bis zur Weiterbehandlung in der annehmenden Klinik beziehen. Eine Frist, so sagen Mediziner und Krankenhausbetreiber, die nicht einmal in Ballungsgebieten einzuhalten sei. Zudem gebe es keine wissenschaftlichen Studien, die eine solche Auslegung rechtfertigten.
Vergütungen der Krankenhäuser gekürzt
Krankenkassen berufen sich nun auf dieses Urteil und beginnen, Krankenhäusern ihre Vergütung deutlich zu kürzen und darüber hinaus Rückforderungen für vergangene Jahre zu stellen. Unmittelbar Alarm geschlagen haben die Deutsche Gesellschaft für Neurologie und die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Auch Landesministerien (Rheinland-Pfalz, Baden Württemberg) haben einen dringenden Handlungsbedarf deutlich gemacht und erhoffen sich eine Lösung aus dem Bundesgesundheitsministerium.
Mit der deutlich gekürzten Vergütung für die regionalen Stroke Units ist nach Ansicht der Kliniken die Behandlung nicht mehr finanzierbar. Zumal diese Vergütung nicht nur für die kleine Anzahl von Fällen, die tatsächlich eine Verlegung erfordern, gekürzt werden soll, sondern pauschal für alle Schlaganfall-Patienten. Im schlimmsten Fall könnten von den aktuell 320 zertifizierten Stroke Units in Deutschland nur etwa 50 die geforderten Kriterien erfüllen. Denn nicht einmal sämtliche überregionale Stroke Units verfügen über eine neurochirurgische Abteilung im Haus und sind mitunter auf Verlegungen angewiesen. Die anderen Kliniken, so warnen Mediziner und Krankenhausbetreiber, könnten sich aus der hoch qualifizierten Schlaganfall-Versorgung zurückziehen.
Dialog dringend notwendig
Was wäre die Folge? Viele Studien haben die hohe Wirksamkeit einer Behandlung auf der Stroke Unit belegt. Deutlich mehr Patienten überleben einen Schlaganfall und erleiden seltener schwere Behinderungen. In Hessen hat sich eine Arbeitsgruppe von Neurologen gebildet, die auf Basis von Studien berechnen will, wie viele Menschen zusätzlich an einem Schlaganfall versterben oder in der Folge schwer behindert sein könnten, wenn sich die Versorgungslandschaft wie befürchtet verändert.
„Wir teilen die Sorgen vieler Kliniken, weil wir nicht nur in den Ballungszentren, sondern auch im ländlichen Raum eine gute Akutversorgung benötigen“, sagt Dr. Michael Brinkmeier, Vorstandvorsitzender der Deutschen Schlaganfall-Hilfe. Die Stiftung versteht sich als Fürsprecher der Patienten. „Nicht nachvollziehbar ist für uns, warum ein bewährtes und erfolgreiches System jetzt durch bürokratische Spitzfindigkeiten in Frage gestellt werden soll. Damit kann eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, die zur ernsthaften Gefährdung von Patienten führt.“ Brinkmeier ruft alle Beteiligten auf, in den Dialog zu treten und zeitnah zu pragmatischen Lösungen zu kommen, die eine gute Versorgung der Patienten auch in der Fläche gewährleisten.
Aussender: Mario Leisle, Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe
Redaktion: Torben Gösch