KIEL, 23.05.18 – Der islamistische Terrorismus und zunehmende Radikalisierungstendenzen an den politischen Rändern der Gesellschaft prägen nach Ansicht von Schleswig-Holsteins Innenminister Hans-Joachim Grote die Sicherheitslage im Land…
„Angesichts der angespannten Sicherheitslage gilt es ganz besonders, Gefahren für unsere Demokratie frühzeitig zu erkennen. Der Verfassungsschutz erweist sich dabei als unverzichtbares und funktionierendes Frühwarnsystem zum Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung“, sagte Grote heute (24. Mai) bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2017 in Kiel. Die Beobachtung des politischen Extremismus und insbesondere seiner gewaltorientierten Bereiche blieben die Kernaufgabe des Verfassungsschutzes. Zusätzlich müsse man aber auch ideologische Entwicklungen zur Verschiebung des demokratischen Wertesystems verstärkt in den Blick nehmen. „Die Grenzen zwischen einem noch verfassungskonformen Diskurs und extremistischer Betätigung sind häufig fließend“, sagte Grote.
Islamismus und Islamistischer Terrorismus
Abstrakte Gefahr eines islamistischen Anschlags weiterhin hoch
Die Sicherheitslage im Bereich des islamistischen Terrorismus in Schleswig-Holstein wird weiterhin durch die aktuelle Situation in Syrien und den Zusammenbruch der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) bestimmt. Die Gefährdungslage in ganz Deutschland ist unverändert hoch. In Schleswig-Holstein hat sich das islamistische Personenpotenzial im Vergleich zum Vorjahr deutlich um 25 Prozent von 440 auf 550 erhöht. Dies ist auf einen signifikanten Anstieg des salafistischen Potenzials von 370 auf 500 Personen zurückzuführen.
Ausländische islamistische Kämpfer missbrauchen vermehrt Flüchtlingsbewegungen
Nach wie vor gibt es Hinweise darauf, dass ausländische islamistische Kämpfer die anhaltenden Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland und Europa nutzen, um unerkannt in die Bundesrepublik und auch nach Schleswig-Holstein zu gelangen. Auch im Jahr 2017 hat es in Schleswig-Holstein Fälle gegeben, in denen aufgrund verdichteter Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden gegen die mutmaßlichen Kämpfer strafrechtliche Ermittlungsverfahren initiiert werden konnten.
Hinzu kommt eine steigende Zahl von Fällen, in denen Personen im Rahmen ihres Asylverfahrens mitteilen, zum Teil gezwungenermaßen in ihren Herkunftsländern Teil einer Terrororganisation gewesen zu sein. Die kontinuierlich steigende Gesamtzahl dieser Sachverhalte sowie die damit verbundenen zahlreichen Maßnahmen bildeten im Jahr 2017 einen Schwerpunkt bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus durch die Verfassungsschutz- und Polizeibehörden.
Niedergang des Islamischen Staates birgt Gefahr zurückkehrender Kämpfer
Vor dem Hintergrund des Niedergangs der Terrororganisation Islamischer Staat sind die weiterhin andauernden Reisebewegungen islamistischer Kämpfer zu betrachten. Zwar sind im Berichtsjahr sowohl in Schleswig-Holstein als auch bundesweit weniger erfolgreiche Ausreisen von Islamisten nach Syrien oder in den Irak feststellbar. Allerdings zeigen mehrere gescheiterte Ausreiseversuche von Personen aus Schleswig-Holstein, dass die Propaganda islamistischer Terrororganisationen nach wie vor Radikalisierungsprozesse befördern kann und Auswirkungen auf die hiesige Szene hat.
Darüber hinaus muss vor allem aufgrund des Niedergangs des IS in erhöhtem Maße mit einer Rückkehr ideologisierter und ausgebildeter Kämpfer sowie deren Familienangehörigen nach Deutschland und Schleswig-Holstein gerechnet werden. Auch von einer Indoktrinierung und Radikalisierung der Kinder und Jugendlichen muss ausgegangen werden. Zu einzelnen Ausreisefällen aus Schleswig-Holstein liegen Hinweise darauf vor.
Rechtsextremismus
Das rechtsextremistische Personenpotential in Schleswig-Holstein belief sich im Berichtsjahr auf 1.300 Personen und verringerte sich damit um rund vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es liegt nunmehr wieder auf dem Niveau von 2015. Ein wesentlicher Grund für den Rückgang war die nachlassende Anti-Asyl-Agitation.
Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) verliert Charakter als Wahlpartei
Das Wahljahr 2017 verlief für den parteigebundenen Rechtsextremismus bundesweit desaströs. Der NPD-Landesverband Schleswig-Holstein trat zur Landtagswahl im Mai wegen seiner anhaltend organisatorischen Schwäche und aufgrund fehlender zugkräftiger Kandidaten erst gar nicht mehr an. Für die Bundestagswahl schaffte es die NPD Schleswig-Holstein nur durch die Unterstützung von Aktivisten aus anderen Bundesländern noch kurz vor Fristende, die notwendige Zahl von 2.000 Unterstützerunterschriften bei der Landeswahlleitung einzureichen, um mit einer Landesliste anzutreten. Der weiterhin fehlende Zuspruch in der Bevölkerung zur NPD, rückläufige Mitgliederzahlen, organisatorische Schwächen, vor allem aber das schlechte Wahlergebnis und die daraufhin ausbleibenden Mittel aus der staatlichen Parteienfinanzierung dürften den anhaltenden Abwärtstrend der Partei weiter beschleunigen. Die beiden anderen rechtsextremistischen Parteien mit grundsätzlich bundesweiter Bedeutung wie DIE RECHTE und Der III. Weg spielen in Schleswig-Holstein bislang keine Rolle.
Rechtsextremistische Konzerte wieder gut besucht
Waren sie in den vergangenen Jahren nur noch selten in größerem Rahmen festzustellen, so gab es im Berichtsjahr 2017 bundesweit wieder deutlich mehr rechtsextremistische Liederabende und Konzerte. Allein in Schleswig-Holstein registrierte die Verfassungsschutzbehörde insgesamt zehn rechtsextremistische Liederabende und Konzerte – und damit doppelt so viele wie 2016. Teilweise über 100, in der Spitze sogar mehr als 150 Teilnehmer zeigen, dass rechtsextremistische Musik weiterhin eine große Anziehungskraft hat, insbesondere in der subkulturellen Szene. Nicht zuletzt wegen ihres Freizeit- und Eventcharakters sind rechtsextremistische Musikveranstaltungen häufig die Brücke, über die junge Leute den Weg ins rechtsextremistische Lager finden.
Identitäre Bewegung auf dem Vormarsch
Die Identitäre Bewegung (IB) Deutschland hat im Berichtsjahr 2017 in Schleswig-Holstein weiter Fuß gefasst und mit mehreren öffentlichen Aktionen auf sich aufmerksam gemacht. Straffe Organisation, seriös auftretende Führungsfiguren und ein intellektuelles Netzwerk im Hintergrund machen die IB zu einer ernstzunehmenden und anwachsenden Größe im Rechtsextremismus. Die Gruppierung erreicht vor allem junge und häufig gut bis sehr gut gebildete Erwachsene, die sich von den herkömmlichen neonazistisch geprägten Strömungen nicht angesprochen fühlen. Zur Strategie der IB gehört es im Wesentlichen, extremistische Positionen in die politische Debatte einzubringen und zu verankern, um so die Deutungshoheit über bestimmte Themen wie etwa die Zuwanderung zu gewinnen. Die weltanschauliche Ausrichtung der IB ist grundsätzlich bis weit in das bürgerliche Lager anschlussfähig.
Reichsbürger
Reichsbürgerszene deutlich aufgehellt
Aus den Behörden und Dienststellen des Landes, also dort, wo so genannte Reichsbürger am häufigsten auffallen, erreichten den Verfassungsschutz zahlreiche Hinweise auf Personen, die im Verdacht stehen, der Reichsbürgerbewegung anzugehören. Am Ende des Berichtsjahres (Stichtag 31.12.2017) stellt sich danach folgendes Bild dar: 230 Personen konnten als Reichsbürger eindeutig identifiziert werden. Damit hat sich die Zahl der Reichsbürger im Vergleich zum Vorjahr um mehr als das Vierfache erhöht. Im Jahr 2016 registrierte der Verfassungsschutz 54 Personen. Angehörige der Reichsbürgerbewegung werden auch weiterhin versuchen, ihre Überzeugung aktiv gegenüber Behörden und deren Vertretern durchzusetzen. Mit zunehmendem staatlichen Druck auf die Szene, insbesondere bei der Einforderung säumiger Zahlungen und dem Entzug der waffenrechtlichen Erlaubnis, wächst die Gefahr, dass es beim Aufeinandertreffen von Reichsbürgern und Behördenmitarbeitern künftig häufiger als bisher zu Eskalationen kommen kann.
Linksextremismus
Das linksextremistische Personenpotential in Schleswig-Holstein liegt mit 670 konstant auf dem Niveau der beiden Vorjahre. Innerhalb der linksextremistischen Strömungen ist jedoch eine leichte Verschiebung vom dogmatischen hin zum autonomen Spektrum zu verzeichnen. Gründe hierfür dürften u. a. in einer Überalterung des dogmatischen Spektrums liegen, während die autonome Szene das Potential hat, anlassbezogen neue Anhänger zu gewinnen.
AfD-Wahlkampf intensiv gestört
Die linksextremistische Szene nahm das Doppelwahljahr zum Anlass, ihre Aktivitäten im Themenfeld „Antifaschismus“ zu verstärken. Nachdem sie sich zuletzt wenig aktionsfreudig zeigten, konzentrierten sich Linksextremisten in Schleswig-Holstein in diesem Berichtsjahr auf die aktive Bekämpfung der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Doch auch die mittlerweile bedeutungsschwache NPD, die einen sehr eingeschränkten Wahlkampf geführt hat, war Ziel von Protestaktionen.
Durch die zunehmenden Erfolge der AfD hat die linksextremistische Szene mit der Bekämpfung der Partei ein in hohem Maße gesamtgesellschaftlich relevantes Thema aufgegriffen. Das Thema ist bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig, so dass sich die Szene der zivilgesellschaftlichen Unterstützung nahezu sicher sein konnte. Doch auch dieses Engagement von Linksextremisten ist nur ein Mittel zum Zweck: Es soll eine Plattform für deren eigentliches Ziel geschaffen werden, nämlich den Kampf gegen den bestehenden Rechtsstaat.
Verhaltene Beteiligung aus Schleswig-Holstein an G20-Protesten
Im Vorfeld des G20-Gipfels war eine sehr verhaltene Mobilisierung der schleswig-holsteinischen Szene für Protestaktionen gegen den G20-Gipfel erkennbar. Der überwiegende Teil der Szene war hierbei jedoch nicht in feste organisatorische Planungen eingebunden, sondern beschränkte sein Engagement auf das Werben für eine Teilnahme an den Gegenprotesten. Somit führte die generell hohe Anziehungskraft des bundesweiten Großereignisses für linksextremistische Gegenproteste im Berichtsjahr letztlich nicht zu hohen Teilnehmerzahlen der hiesigen Szene. Die zurückhaltende Beteiligung war dabei über alle Gruppierungen der linksextremistischen Szene in Schleswig-Holstein erkennbar. Eine Erklärung hierfür sind insbesondere die über einen längeren Zeitraum durchgeführten Proteste gegen die AfD vor der Landtagswahl.
Extremismus mit Auslandsbezug
Das Personenpotential im Bereich Extremismus mit Auslandsbezug blieb im Berichtsjahr weiterhin konstant. Es belief sich auf insgesamt 1.100 Personen.
Politische Konflikte der Türkei in Deutschland ausgetragen
Im Bereich des Extremismus mit Auslandsbezug in Schleswig-Holstein spielen aktuell Organisationen mit Türkei-Bezug die wichtigste Rolle, nämlich die linksextremistische pro-kurdische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die türkisch-rechtsextremistische Ülkücü-Bewegung. Im ersten Viertel des Berichtsjahres bestimmte das Referendum zur Änderung der türkischen Verfassung die Aktivitäten und das Versammlungsgeschehen beider politischen Kontrahenten. Direkte Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern in diesem Kontext blieben in Schleswig-Holstein jedoch die Ausnahme.
Vehemente Proteste gegen Kennzeichenverbot
Am 2. März erweiterte das Bundesministerium des Innern die Liste der verbotenen PKK-Kennzeichen u. a. um die Symbole der syrischen PKK-Schwesterpartei Partei der Demokratischen Union (PYD) sowie bestimmte Abbildungen des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, die zuvor auf Demonstrationen häufig anstelle der traditionellen PKK-Fahnen gezeigt worden waren. PKK-nahe Organisationen protestierten vehement gegen diese Entscheidung. Entsprechende Auflagen der Versammlungsbehörden wurden bei Großdemonstrationen durch PKK-Anhänger im Bundesgebiet missachtet. Mehrere Versammlungen endeten unfriedlich, als die Polizei gegen das Zeigen verbotener Symbole einschritt.
Sorge um PKK-Gründer Öcalan
Am 1. September begannen PKK-nahe Organisationen eine Kampagne, mit der die Freilassung des Parteigründers Abdullah Öcalan aus türkischer Haft gefordert wurde. Als Mitte Oktober Gerüchte um eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes oder gar seinen Tod kursierten, verlangten überall in Deutschland PKK-Anhänger auf Spontanversammlungen Informationen über die Lage Öcalans und seine Freiheit.
Entwicklung der Mitglieder und Anhängerzahlen islamistischer Organisationen in Schleswig-Holstein 2013 bis 2017
Aussender: Dirk Hundertmark, Tim Radtke, Ministerium für Inneres, ländliche Räume und Integration (SH)
Redaktion: Torben Gösch