Foto Copyright: Florian Fügemann

30 Jahre nach dem GAU: Ortstermin in Tschernobyl – Überdachung durch New Safe Confinement bis Ende des Jahres geplant

Exakt 30 Jahre nach dem schwersten atomaren Unfall in der Menschheitsgeschichte rostet der 1986 in nur wenigen Monaten eilig errichtete Sarkophag vor sich hin. Auch wenn die neue Schutzhülle fast fertig ist, bleiben viele Fragen offen. pressetext reiste anlässlich des bevorstehenden Jahrestags in den Norden der Ukraine, sprach in der Todeszone von Tschernobyl mit Verantwortlichen und bekam direkt vor Ort exklusiven Einblick in die aktuellen Bautätigkeiten am Unglücksreaktor…

Foto Copyright: Florian Fügemann

4.300 Quadratkilometer belastet

Das Sperrgebiet, das mit 4.300 Quadratkilometern einem Radius von 37 Kilometern rund um Reaktorblock 4 entspricht und von der ukrainischen Miliz bewacht wird, ist nur mit Sondergenehmigung betretbar. Zwei Checkpoints – bei 30 und bei zehn Kilometern – sollen unerwünschten Besuch davon abhalten, in die Zone, die fast doppelt so groß wie Luxemburg ist, zu gelangen. Die Einfahrt lässt nur vage erahnen, dass hier über die Jahre insgesamt 350.000 Menschen evakuiert wurden. Auch wenn das Dosimeter lange auffällig unverdächtig bleibt und mit 0,14 Mikrosievert pro Stunde einen normalen Wert anzeigt, trügt der Schein.

Die während der Fahrt gemessene geringe Radioaktivität bedeutet nicht, dass die Region unbelastet ist. Die von Kiefer- und Birkenwäldern geprägte Landschaft ist auch 30 Jahre nach dem GAU kontaminiert. Lediglich die Straßen wurden bestmöglich gereinigt, um eine gewisse Logistik zum Industriegebiet von Tschernobyl halbwegs sicherzustellen. Durch die Explosion von Block 4 im Zuge einer Test-Stromabschaltung am 26. April 1986 wurden unter anderem Iod-131 (Halbwertszeit acht Tage), Cäsium-137 (Halbwertszeit 30 Jahre), Strontium-90 (Halbwertszeit 28 Jahre) und Plutonium-239 (Halbwertszeit: 24.360 Jahre) freigesetzt.

506 Kubikmeter hochradioaktiver Müll

Erste Station der Reise: ein Besuch bei NUKEM Technologies http://nukemtechnologies.com , eine 100-prozentige Tochter von JSC Atomstroyexport aus Deutschland, die wiederum zur russischen Rosatom-Holding http://rosatom.ru gehört. NUKEM hat sich auf die Stilllegung und den Rückbau von Nuklearanlagen spezialisiert und unterhält auf dem Gelände ein Hightech-Gebäude, das sich unmittelbar in der Nähe des havarierten Reaktorblocks 4 befindet. Hier wird radioaktiv kontaminierter Abfall behandelt und verpackt, der aus allen Reaktoren während der Betriebsphase anfiel – gegenwärtig insgesamt 506 Kubikmeter hochbelasteter Atommüll.

Die sich teils noch im Testbetrieb befindlichen Anlagen sind auf dem neuesten Stand der Technik und werden von Experten aus der Ukraine bedient. Neben Bandsägen von Klaeger aus Kernen http://klaeger.com kommt beim Zerlegen des teils hochgradig kontaminierten Atommülls auch fernsteuerbares Abbruch-Equipment der Firma Brokk aus Blumberg sowie Kern-, Mess- und Regeltechnik von Stadler + Schaaf http://stadler-schaaf.de aus Offenbach zum Einsatz. Durch zwölf Zentimeter dicke Scheiben hindurch blickend, sortieren die Fachleute dann zum Beispiel radioaktiv kontaminierte Betonstücke über flexibel steuerbare Roboterarme.

2.500 Menschen in der Strahlenhölle

Zweite Station der Reise: Besichtigung des Reaktorgebäudes: Nach strengen Kontrollen ein Blick auf die Strahlenhölle von Tschernobyl von Norden – ein für Touristen unzugänglicher Bereich. Dabei macht der eigentlich nur für 25 Jahre und in 206 Tagen hastig errichtete Sarkophag einen schlechteren Eindruck als erwartet. „Über 90.000 Menschen waren insgesamt mit dem Bau beschäftigt. Es blieb keine Zeit für ein ausgeklügeltes Design. Die ersten am Reaktor eintreffenden 300 Helfer, Feuerwehrleute und Kraftwerksspezialisten waren bis zum Mai 1986 tot“, sagt Fremdenführerin Yulia Konstantinovna gegenüber pressetext.

Infolge der Explosion von Block 4 wurde die Abdeckung des Reaktors angehoben und drehte sich um 90 Grad. Die 1.000 Tonnen schwere Betondecke von Block 4 wurde weggesprengt, Radioaktivität von 200 Hiroshima- und Nagasaki-Bomben freigesetzt. „Auch heute, 30 Jahre danach, sind 20 Prozent der Räume im Gebäude – entweder aufgrund der hohen Strahlung oder durch Bauschutt – unzugänglich“, so Konstantinovna. Trotz der nach wie vor aggressiven Strahlung herrscht heute reges Treiben am Fuße der Bauruine. 2.500 Menschen arbeiten dort im Schichtbetrieb – für Schadensbegrenzung und eine neue Hülle, den New Safe Confinement.

Neue Hülle soll Rückbau ermöglichen

Dritte Station der Reise: Ein Besuch der Baustelle zur Errichtung des neuen Sarkophags http://bit.ly/1T3dDXt : Das Ende 2010 begonnene Mammutprojekt erschlägt einen förmlich – 108,89 Meter hoch, 257,44 Meter breit und 150 Meter lang. Die New Yorker Freiheitsstatue passt mit ihren 92,99 Metern locker unter das Dach. „Der New Safe Confinement hat derzeit ein Gewicht von 36.000 Tonnen und wird am Ende rund 40.000 Tonnen wiegen. Innen kommt sechs, außen sieben Millimeter dicker, rostfreier Stahl zum Einsatz“, sagt der stellvertretende Bauleiter Victor Zalizetskyi vor Ort im pressetext-Gespräch. „An der Decke der Staubschutzhülle befinden sich gelbe Stahlträger. Dort werden später dann Kräne für den Rückbau angebracht.“

Finanziert wird der Bau mit Mitteln und unter Aufsicht der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung http://de.ebrd.com . „Die Kosten belaufen sich derzeit auf 1,5 Mrd. Euro. Bevor wir mit dem Bau beginnen konnten, musste der alte Sarkophag mit spezieller Lüftungstechnik ausgerüstet werden. Zudem haben wir 2008 eine Stabilisierungskonstruktion an der Westseite des alten Sarkophags angebracht, da diese 80 Prozent des Dachgewichts tragen wird“, weiß Zalizetskyi. Die Entfernung beider Gebäude zueinander betrage aktuell 330 Meter. Ende 2016 soll die neue Hülle mit rund zehn Metern pro Stunde über das Gebäude geschoben werden.

Das Projekt ist, wie auch die Sicherheits-Standards auf dem Gelände, international. Errichtet wird die Haube von Novarka http://novarka.com , einem Konsortium aus Frankreich, das sich extra zum Bau gegründet hat. Mit von der Partie sind die französischen Unternehmen Vinci und Bouygues, die deutschen Firmen NUKEM und Hochtief sowie einige ukrainische Partner. Die Gelder der 43 beteiligten Länder setzen sich wie folgt zusammen: USA 19,16 Prozent, Deutschland 8,35 Prozent, UK 6,57 Prozent, Ukraine 6,22 Prozent, Japan 5,19 Prozent, Frankreich 5,77 Prozent, Kanada 4,82 Prozent, Italien 4,55 Prozent, Rest 12,35 Prozent.

Breiter Informationsaustausch als Ziel

Vierte Station der Reise: Treffen mit Igor Gramotkin, seit 2005 Generaldirektor der Chernobyl Nuclear Power Plant: Der Manager zeigt sich auf Nachfrage von pressetext optimistisch: „Wir haben jetzt 30 Jahre lang Erfahrung auf dem Gebiet der Atomkraft und der Beseitigung der Schäden in Tschernobyl. Wir laden alle ein, uns bei der Lösung zu helfen.“ Das Unglück habe zur Verbesserung der Reaktorsicherheit rund um den Globus beigetragen. Trotz der ungelösten Endlagerfrage bekennt sich Gramotkin weiter zur Atomkraft und zieht einen skurrilen Vergleich: „Nach dem Untergang der Titanic ist man auch weiter zur See gefahren. Ähnlich verhält es sich zum GAU in Tschernobyl. Es ist gut, dass die Menschheit die Atomkraft nicht aufgegeben hat.“

Gramotkin sieht sich und die Ukraine in der Pflicht, ihr Know-how und sämtliche Erfahrungen im Krisenmanagement zu teilen – und politische Meinungsverschiedenheiten völlig außer Acht zu lassen. Auf Nachfrage, ob sich die aktuell angespannten Beziehungen zu Russland auf die Bewältigung vor Ort auswirken würden, gibt sich der gelernte Atomingenieur unparteiisch. „Radioaktivität kennt keine Ländergrenzen, wie der Unfall von 1986 gezeigt hat. So verhält es sich auch bei der Beteiligung der Staatengemeinschaft. Da dies ein internationales Problem ist, wird kein Land diskriminiert.“ So habe man den Kollegen in Fukushima bereitwillig alle Daten übermittelt, Experten dorthin entsandt und umfassende Unterstützung angeboten.

Aussender: pressetext, Florian Fügemann
Foto Copyright Florian Fügemann
Redaktion: TG