Waterloo/Berlin – Zunehmendes Alter bringt für das Gehirn nicht nur Nachteile: Die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, bleibt intakt und wächst oft sogar noch. Dieses als „Weisheit“, oft auch als „kristalline Intelligenz“ beschriebene Phänomen unterscheidet sich von Kultur zu Kultur stark, wobei westliche Nationen hier im Rückstand sind. Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité Universitätsmedizin Berlin http://www.charite.de , zeigt im pressetext-Interview das Ausmaß des Problems: Der Verlust der Weisheit geht zu Lasten der Psyche und des Zusammenhaltes der Generationen.
Alles reine Trainingssache
Weisheit ist für den Berliner Neurologen, Psychiater und Psychotherapeut „die Fähigkeit eines jeden, unlösbare Problemen zu lösen“. Zwar komme sie mit den Jahren automatisch, wie Oscar Wilde sagte, doch auch Curd Jürgens hatte mit seinem „60 Jahre und kein bisschen weise“ recht. Alles sei Frage des Trainings: „Je mehr Schwierigkeiten man gelöst hat, desto besser weiß man, wie man rangeht. Therapeuten, Pfarrer oder Richter wachsen am ständigen Umgang mit Konflikten anderer.“ Da Weisheit im Alter wächst, gibt es für manche komplexe Aufgaben Alterslimits: Um deutscher Bundespräsident zu werden, muss man mindestens 40 Jahre alt sein.
Japaner werden früher weise
Laut Linden gibt es „auch analphabetische Großmütter mit hochentwickelter Weisheit“, weshalb formale Intelligenz oder Bildung keine Rolle spielen. Wohl aber die Kultur, wie eine aktuelle Studie von Igor Grossmann von der University of Waterloo in der Zeitschrift „Psychological Science“ http://bit.ly/OQfbY5 zeigt. Mit seinem Forscherteam legte er Versuchspersonen in Japan und den USA Nachrichtentexte zu Konflikten zwischen Gruppen und Einzelpersonen vor – und bat sie, die Situation zu beschreiben und den weiteren Fortgang vorherzusagen.
Das Ergebnis, erhoben durch Kriterien wie etwa die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, der Einschätzung verfügbarer Optionen bis hin zur Kompromissfähigkeit und zum Erkennen eigener Wissensgrenzen: Japaner erreichen Weisheit meist früher als gleichaltrige US-Amerikaner, besonders wenn es um Gruppenkonflikte geht. Im Umgang mit Konflikten zwischen Personen holen betagte Amerikaner im Alter einiges auf, bleiben jedoch weiterhin im Rückstand. Dass die Weisheit mit dem Alter leicht steigt, bestätigte sich in allen Kulturen.
Bauchnabel der Welt
Die Unterschiede deutet Linden als Folge des Egozentrismus der westlichen Kultur, der „weisheitsschädigend“ sei: „Seit einigen Jahrzehnten verhält sich bei uns jeder, als sei er der Bauchnabel der Welt, während Empathie, Bescheidenheit, Leidenstoleranz und Selbstdistanz abhanden kommen. Die Folge sind viele psychische Störungen.“ Der Westen komme hier zunehmend in Rückstand gegenüber Kulturen, in denen alte Philosophien und Religionen weiter eine wichtige Rolle einnehmen – wie etwa in der japanischen Kultur.
Die gesellschaftliche Abwertung der Weisheit und deren Träger verschärft jedoch auch den Konflikt zwischen den Generationen: Die Wertschätzung der Senioren hat dadurch einiges eingebüßt, sowie auch deren eigenes Wohlbefinden. „Hochbetagte hängen viel stärker von ihrer Weisheitskompetenz ab als von der finanziellen Situation“, behauptet Linden. Günstig wäre es deshalb, die materialistische Sichtweise der Welt gelegentlich aus der Distanz zu überprüfen.
pressetext.redaktionAnsprechpartner: Johannes Pernsteiner
Japanischer Opa: Weisheit ist kulturell bedingt (Foto: Flickr/Tenaciousme)