Loveparade-Gedenkstelle: Freispruch für Partygäste (Foto: Wikimedia/Beademung)

Loveparade-Unglück: Systemfehler statt Hysterie – Physikalische Gesetze verursachten Katastrophe, nicht Psychologie

Zürich – Nicht Massenpanik, sondern das systemische Zusammenwirken vieler Faktoren hat die Massenturbulenz der Duisburger Loveparade 2010 ausgelöst. Das berichten Soziologen der ETH Zürich http://ethz.ch im Fachblatt „EPJ Data Science“. Schon unmittelbar nach dem Unglück hat Studienleiter Dirk Helbing davor gewarnt, die Schuld für das Zutodetrampeln der 21 Opfer in etwaigem Panikverhalten zu suchen (pressetext berichtete: http://bit.ly/Lwnreg ). Die Vermutung hat sich bestätigt – dank genauer Auswertungen von auf Internetplattformen frei verfügbaren Amateurvideos der Katastrophe.Loveparade-Gedenkstelle: Freispruch für Partygäste (Foto: Wikimedia/Beademung)

 

Menschendichte provoziert Massenbeben

 

Was in Duisburg passiert ist, kann man nur schwer nachvollziehen, sagt der Forscher im pressetext-Interview. „Vorerst schien alles im grünen Bereich, doch dann kippte die Situation plötzlich und geriet völlig aus dem Ruder – obwohl sich alle nach Kräften bemühten, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.“ Minutiös zeigt Helbing auf, dass ein ganzes Bündel von Problemen zu Kaskadeneffekten und schließlich zur Eskalation führte. „Physikalisch gesprochen, bricht die Kapazität plötzlich zusammen, wenn das System an seine Belastungsgrenze stößt“, erklärt der Sozialforscher. Überlebende umschrieben es so: „Es war, als ob sich die Hölle aufgetan hätte – wo kamen plötzlich all die Menschen her?“

Hauptproblem war die zu hohe Dichte der Besucher im Eingangsbereich des Festivalgeländes, zeigt die Analyse. Die Anwesenden waren derart zusammengepfercht, dass ihre Körper einander nicht nur berührten, sondern auch Vibrationskräfte übertrugen und verstärkten, was ein sogenanntes „Massenbeben“ verursachte und viele stürzen ließ. „Zuvor nervten die Berührungen bloß, dann war man plötzlich zwischen den anderen eingequetscht. Zehn zusätzliche Menschen im Zugangsbereich konnten schließlich die vorerst noch stabile Situation in Turbulenzen umschlagen lassen“, erkläutert Helbing.

Phantomstaus und Finanzcrashs

Dieses plötzliche Umkippen eines Systems findet man nicht nur bei überfüllten Veranstaltungen. Auch auf Straßen kommt es ab bestimmter Autodichte zur Systeminstabilität, die „Staus aus dem Nichts“ entstehen lassen. „Theoretisch fließt der Verkehr ja immer, solange alle gleich schnell fahren. Variiert die Geschwindigkeit ein bisschen, dann wird ein Bremsen nötig, und der dahinterliegende Wagen muss wegen der Reaktionszeit noch ein bisschen stärker bremsen. Am Ende der Kettenreaktion steht der Verkehr, obwohl alle genau das gegenteil wollen“, erklärt der Züricher Forscher. In der Finanzwelt, etwa beim „Flash Crash“ von 2010 oder dem US-Bankensterben, oder auch bei Nordafrikas Revolutionen und vielen Kriegen geschehe dasselbe: Systeme geraten völlig außer Kontrolle, da sie instabil werden.

Lernen statt Beschuldigen

Über ein Dutzend vorbeugende Maßnahmen – von der Auswahl des Geländes bis zur Evakuierbarkeit, von der Trennung von Zu- und Ausgängen bis zum Rahmenprogramm für auf Einlass wartende Besucher – hätten in Duisburg die Eskalation aufhalten können. „Zwischen dem Stillstand der Menge auf der Rampe und den tödlichen Turbulenzen verlor man eine Stunde, in der sich die Situation verschärfte.“ Helbing warnt jedoch, dass bei derartigen Geschehnissen die landläufige Personalisierung und Suche nach einem Sündenbock den systemischen Ursachen der Katastrophe nicht gerecht werden. Derart verkürzte Schlussfolgerungen könnten bewirken, dass man erforderliche Lehren nicht zieht und solche Katastrophen immer wieder passieren.

Für die Prävention bei künftigen Massenveranstaltungen legt der Risikoforscher eine achtstufige Skala mit Vorwarnsignalen vor. Sie reicht von geringem Risiko mit Durchflussraten von bis zu bis drei Personen pro Quadratmeter (Stufe 0) bis zum Crowd Disaster mit übereinanderliegenden und über andere krabbelnden Menschen (Stufe 8). Zudem gibt sie auch Empfehlungen für die Organisation. Zentrales Thema aller Maßnahmen ist die Kommunikation zwischen allen Beteiligten, und: „Wir brauchen wir eine gute Sicherheitskultur. Jede Massenveranstaltung sollte mit dem Unerwarteten rechnen.“

pressetext.redaktion
Ansprechpartner: Johannes Pernsteiner
Loveparade-Gedenkstelle: Freispruch für Partygäste (Foto: Wikimedia/Beademung)