Basel – Norwegen geht äußerst mutig vor im Prozess, den es Oslo-Attentäter Anders Breivik derzeit macht – und wird gestärkt daraus hervorgehen. Zu diesem Schluss kommt der Soziologe und Philosoph Alexander Dill im Interview mit pressetext. „Ein Verfahren, bei dem ein 77-facher Mörder ohne Handschellen und im Anzug sitzen und seine politischen Ansichten öffentlich aussprechen darf, zeugt von enormer Souveränität des Landes. Norwegens lässt seine Grundfeste dadurch nicht in Frage stellen“, so der Experte, der das Basel Institute of Commons and Economics http://commons.ch leitet.
Harmonie durch Attentat
Die aktuelle Vorgehensweise sieht Dill als Fortsetzung der Reaktion des skandinavischen Landes unmittelbar auf das Attentat vom 22. Juli 2011. Wie er in seinem soeben bei oekom erschienenen Buch „Gemeinsam sind wir reich“ in Erinnerung ruft, folgte damals öffentliches Schweigen statt Diskussionen und Streitigkeiten um die politische Rechte. Nicht etwa ein gemeinsames Bekenntnis, sondern geteilter Schmerz und Trauer hätten ein Kollektiv geschaffen, das Norwegens Gesellschaft noch harmonischer machte.
Für weniger offene Systeme sei der Breivik-Prozess eine Provokation. „Etwa in den USA herrscht Unverständnis über die Behandlung des Täters und viele Leserkommentare in den Medien fordern seine Erschießung. Auch in Europa häufen sich die Rufe, dass die Polizei Breivik schon 2010 hätte fassen müssen.“ Norwegen fordere jedoch weder Polizeibefragungen, noch gab es ein Köpferollen in der Exekutive. „Die Einsicht setzte sich durch, dass Einzelattentäter nicht durch staatliches Handeln oder Gesetze zu verhindern sind.“
Streit um Zurechnungsfähigkeit
Ein ähnlich mutiges Signal sei das zweite rechtspsychiatrische Gutachten, das auf Drängen der norwegischen Öffentlichkeit erstellt wurde und Breivik volle strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit attestierte. Beim ersten Gutachten, das eine Psychose und paranoide Schizophrenie festgestellt hatte, ortet Dill einen nicht zulässigen Umkehrschluss, der die Psychiatrie bloß instrumentalisiere. „Man war davon ausgegangen, nur ein Verrückter könne eine derart irre Tat vollbringen. Ähnlich pocht auch der Anwalt des US-Soldaten, der im März 17 Afghanen erschoss, auf ‚posttraumatischen Stress‘ seines Mandanten.“
Es sei jedoch nicht im Interesse Norwegens, Breivik als Irren darzustellen, da das Rechtssystem auf Resozialisierung abziele. „Die Staatsanwältin Inga Bejer Engh setzt alles daran, Breivik zur Einsicht zu bringen, dass seine islamophobe Begründung nicht haltbar ist. Die Botschaft dabei: Jeder Bürger kann für Demokratie gewonnen werden – ähnlich wie der Papst-Attentäter Agca seine Tat als Fehler erkannte und sich entschuldigte.“ Symbolhafter Ausdruck dieser Resozialisierung ist Norwegens Schwerverbrecher-Gefangeneninsel Bastøy, die völlig ohne Mauern oder Stacheldraht sowie mit minimaler Bewachung auskommt. Ausbrüche gab es hier bisher keine.
Konsens statt Konfrontation
Erklärbar sei diese Haltung Norwegens nur durch seine lange demokratische Tradition, die ähnlich wie die Schweiz auf Konsens statt auf Konfrontation gründet. „Norwegen hält Toleranz, Sicherheit und Vertrauen hoch und traut den Bürgern zu, sich auf mündige Weise selbst ein Bild zu machen und Breiviks Aussagen einzuordnen. Angst vor Nachahmungstätern gibt es nicht. In der Gelassenheit zeigt sich das Niveau der Demokratie.“
pressetext.redaktionAnsprechpartner: Johannes Pernsteiner
Kerzen nach Attentat: Norwegen verteidigt seine Grundwerte (Foto: Wikimedia/Lim)