Straßenbahn: Wirkung von Gratis-Tickets umstritten (Foto: pixelio.de/Große)

Verkehrsclubs: Gratis-Busse nicht umsetzbar – Sorge um Verschlechterung bei Angebot und Qualität

Berlin/Wien – Wenn die estnische Hauptstadt Tallinn ihren Bürgern demnächst Bahn und Bus kostenlos anbietet, wird sie damit noch länger einsamer Vorreiter bleiben: Zumindest die Verkehrsclubs raten davon ab, das Konzept auch hierzulande zu kopieren. Sowohl die Qualität als auch das Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) würden sich verschlechtern, sollte er plötzlich nichts mehr kosten, so die Begründung. Dennoch macht sich etwa in Deutschland die Piratenpartei für eine Umsetzung stark und einzelne Umsetzungen gibt es schon.Straßenbahn: Wirkung von Gratis-Tickets umstritten (Foto: pixelio.de/Große)

Keine Kannibalen füttern

 

Ablehnung gegenüber Gratis-ÖPNV signalisiert etwa Anja Smetanin vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) http://vcd.org auf pressetext-Anfrage. „Der Begriff ‚kostenlos‘ führt in die Irre, da der ÖPNV immer kostet und auch fahrscheinloser Verkehr finanziert werden muss.“ Verkehr mit gesellschaftlich negativen Auswirkungen müsse aufgrund der Kostenwahrheit generell etwas kosten, weshalb man Automobilität zwar verteuern, den ÖPVN dabei aber nicht zu sehr verbilligen sollte. „In Großstädten würde man damit bloß verkehrserzeugende Raumstrukturen fördern und den ÖPVN zu billig im Vergleich zu Fuß und Fahrrad machen, was in Kannibalismus endet.“

Dabei wäre in manchen Regionen ein beitragsfinanzierter Null-Tarif durch kommunale Nahverkehrsabgaben durchaus überlegenswert: „Er könnte bisherige Instrumente der Finanzierung sinnvoll ergänzen und Teile des motorisierten Individualverkehrs auf den ÖPNV verlagern“, betont Smetanin. Steuerfinanzierte Gratis-Tickets seien aber nur dort sinnvoll, wo sie ein schlechtes oder fehlendes Angebot ersetzen und tatsächlich zu mehr Fahrgästen führen. Kostenlose „Schnupper-Angebote“ als weitere Variante könnten sich hingegen dafür eignen, Hemmschwellen und Vorurteile einzelner Gruppen abzubauen.

Lieber Ausbau als Verbilligung

Auch für den Verkehrsclub Österreich (VCÖ) http://www.vcoe.at sind Gratis-Tickets keine Lösung. „Wenn man möchte, dass mehr Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, sind die Verbesserung und die Ausweitung des Angebots am wichtigsten. Der dazu nötige Ausbau der Bahn- und Busverbindungen kostet viel Geld, wobei die Einnahmen von Ticketverkäufen – die etwa in Österreich insgesamt über eine Mrd. Euro ausmachen – unverzichtbar sind“, so VCÖ-Sprecher Christian Gratzer gegenüber pressetext.

Schon jetzt sei der öffentliche Verkehr deutlich billiger als ein Auto, und viele Autofahrer steigen angesichts der stark steigenden Spritpreise um, argumentiert Gratzer. Zudem erziele man den beabsichtigten sozialen Effekt auf andere Weise besser: Ohnehin seien viele Fahrgäste in Bahn und Bus Gutverdienende. Statt „Gießkannen-Verteilung“ von Gratistickets bevorzugen daher der VCD und VCÖ einhellig günstigere Sozialtarife für finanzschwache Gruppen. „Gegen Gratis-Tickets spricht auch, dass sie den öffentlichen Verkehr völlig vom Goodwill der Politik abhängig machen“, ergänzt Gratzer.

Schwarzfahren für alle

Als explizites Ziel bezeichnet hingegen die Piratenpartei Deutschland http://piratenpartei.de die Einführung des kostenlosen Nahverkehrs. „In drei Regionen steht dies bisher im Parteiprogramm, ohne dass es jedoch konkrete Finanzierungspläne gibt“, erklärt Markus Bloch von der AG Bauen und Verkehr im pressetext-Interview. In Berlin diskutiere man die Einführung einer Flatrate für Bus und Bahn, in Nordrhein-Westfahlen war bisher die Finanzierung über höhere Parkgebühren oder einer City-Maut nach Londoner Vorbild in Überlegung, und auch Saarlands Piraten wollen das Konzept bewerben.

Dabei gab es in Deutschland im brandenburgischen Lübben und Templin bereits Versuche, den öffentlichen Verkehr kostenlos anzubieten. Langfristig glückte die Idee „Busverkehr zum Nulltarif“ bisher allerdings erst in Hasselt http://hasselt.be , einer 70.000-Einwohner-Stadt Belgiens. Finanziert wird die Maßnahme über Einnahmen aus der Parkgebühr sowie aus anderen Steuern. Die Stadt beschreibt ihren Vorstoß als Erfolgsmodell: Seit dem Beginn 1997 stieg das Fahrgastaufkommen auf das 13-Fache, auch die Umsätze im Einzelhandel zogen an und mehr Menschen kamen in die Stadt.

pressetext.redaktion
Ansprechpartner: Johannes Pernsteiner
Straßenbahn: Wirkung von Gratis-Tickets umstritten (Foto: pixelio.de/Große)