Das Verhalten von Online-Computerspielen liefert einen gigantischen Datenschatz für die Sozialforschung. Pionierarbeit haben hier Wiener Komplexizitätsforscher geleistet. Sie analysierten die Sozialbeziehungen von 400.000 registrierten Spielern eines Browserspiels und bewiesen dabei, dass sich Menschen auch ohne vorgegebene Regeln respektvoll behandeln, während Aggressionen die Ausnahme sind. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse im Wissenschaftsmagazin „Plos One“.
Spiel ist Wirklichkeit
Online-Computerspiele sind wie Big Brother. „Spielehersteller kennen jede einzelne Handlung des Spielers in der virtuellen Welt. Diese können mit der Zustimmung der Spieler wissenschaftlich ausgewertet werden. Die nötigen Werkzeuge dazu gibt es bereits“, berichtet Studienleiter Stefan Thurner vom Institut für die Erforschung komplexer Systeme der Meduni Wien http://www.complex-systems.meduniwien.ac.at , im pressetext-Interview. Unter die Lupe genommen hat er das Spiel „Pardus“ http://pardus.at , bei dem es um die Vorherrschaft in einem virtuellen Universum geht. Die Spieler fühlen sich nicht überwacht, sondern sehen die Datenanalyse als Beitrag zur Erforschung der Spezies Mensch, versichert der Experte.
Zwar bildet das Spiel die Welt nicht ab, doch behalten die Spieler ihre reale Verhaltensweisen im virtuellen Raum bei. Die Kommunikationsstrukturen entsprechen völlig jenen der echten Gesellschaft, zeigten drei Jahre Forschung. „Die Knoten, Cluster, Gruppen und Hierarchien der Spielbeziehungen sind genau dieselben wie jene in Handynetzwerken. Spieler bauen nach demselben Muster Cliquen, Gruppen, Vereine und Betriebe wie die reale Gesellschaft, und auch die Märkte und Finanzzeitreihen sind fast identisch. Der Ölpreis ist im Spiel ‚Space Energy‘.“
Schutz durch eigene Regeln
Die Spieler lassen ihre Avatare handeln, reisen, schlafen, Freundschaften schließen, einander angreifen und kommunizieren miteinander. Jeder wird somit beschreibbar als Sequenz seiner Handlungen, die positiv oder negativ sind. Wird die Gesamtheit statistisch analysiert, erlaubt dies Aussagen. „Überraschend war, dass nur zwei Prozent aller Handlungen gegen andere gerichtet sind. Obwohl jegliche Regeln fehlen, entsteht keine Anarchie, denn die Spieler sind statt feindselig weit eher sozial, mitfühlend und gut zueinander“, berichtet Thurner.
Denn auch wenn „Pardus“ fiese Spieltaktiken wie Angriffe oder Diebstahl des Besitzes des anderen erlaubt, bilden Spieler Untergruppen, die ihren „Code of Conduct“ selbst bestimmen und Verstöße sanktionieren. Manche bilden Kommunen, die untereinander alles teilen, andere gliedern sich hierarchisch, treiben von anderen Steuern ein oder folgen religiösen Vorgaben. „Selbstorganisation bildet somit kein Set moralischer Regeln, sondern viele Regeln von je einzelnen Gruppen. Wer sich mit ihnen unwohl fühlt, wandert zu anderen aus. Regelbrecher werden meist ausgestoßen, verarmen oder hören frustriert auf, weil keiner mehr mit ihnen zu tun haben will“, so der Experte.
Kollektive Zerstörungswut
Interessant ist auch, die Folgen negativer Handlungen zu beobachten. Direkte Racheakte sind hier nach dem Auge-um-Auge-Prinzip die Regel, doch bleibt es nicht dabei. „Der aggressive Grundtonus eines Spielers, der angegriffen wurde, steigt merklich. Zu 30 Prozent – zehnmal wahrscheinlicher als sonst – wird er andere, nicht beteiligte Spieler ebenfalls aggressiv behandeln“, erklärt Thurner. Erreicht diese Dynamik eine Gruppe und heizen sich Feindseligkeiten über Wochen auf, sind Kriege möglich: Kritische Momente kollektiver Zerstörungswut, die erst langsam abflaut.
Menschen sind Herdentiere
Das sind Erkenntnisse, deren Bedeutung bald weit über die Grundlagenforschung hinausreichen könnte. „In der immer komplexeren Welt geht es immer mehr darum, das kollektive Verhalten von Menschen zu verstehen. Oft handeln Menschen individuell, oft jedoch auch wie eine Kuhherde, wenn man etwa Finanzcrashs, Revolutionen oder Katastrophen betrachtet. Um beurteilen zu können, welche Entwicklung eine vorübergehende Fluktuation und welche irreversibel ist, müssen wir verstehen, was zum Herdenverhalten führt“, so der Wiener Forscher.
Ebenso wie Handydaten bieten auch jene von Computerspielern eine schier unendliche Fundgrube, die bisher noch kaum ausgewertet wurde. „Eine immer präzisere Suche nach Mustern und Gesetzen ist dadurch möglich, dass der Mensch tagtäglich hunderte elektronische Fingerabdrücken hinterlässt.“ Derartiger Analysen sind auch Grundlage der EU-Flagship-Initiative „FuturICT“ http://futurict.eu (pressetext berichtete: http://pressetext.com/news/20111022001 ), dessen Teil Thurners Forschungsteam ist.
Originalartikel unter: http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0029796
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Gamer: Spielverhalten entspricht der Realität (Foto: Flickr/Libelul)