Ravensburg – Es gibt keinen Gebärstreik der Eltern, sondern die Gesellschaft bestreikt die Kinder: Diese These liefert Herbert Renz-Polster, Kinderarzt und Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health http://www.miph.de , im bei Kösel erschienenen Buch „Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung“. „Die Bedingungen für das Aufziehen von Kindern sind denkbar schlecht. Zudem macht den Eltern eine Unzahl von widersprüchlicher und überflüssiger Erziehungstheorien das Leben schwer“, so der Autor im pressetext-Interview. Nähe schadet nicht
Viel „dummes Geschwätz“ ist laut Renz-Polster im Umlauf – etwa, dass Säuglinge durch Tragen einen krummen Rücken bekommen, dass sich Kleinkinder nur mit viel Gemüse gesund entwickeln oder dass zu viel Nähe verwöhnt. Der Blick auf die Evolution des Menschen enttarne dies als Luftnummer: „Viel emotionale und körperliche Nähe war zu 99 Prozent der menschlichen Geschichte eine nicht verhandelbare Voraussetzung fürs Überleben – warum sollte das heute die Entwicklung hemmen?“, fragt der Autor.
Ebenso wenig kindgerecht sei die Vorstellung, Kinder könnten durch mehr Disziplin und Grenzen gut erzogen werden. „Erziehung, die sich auf ein Machtgefälle begründet, erzeugt schwache und ängstliche Kinder.“ Die Kritik gilt auch der pädagogischen Aufrüstung der Kinderzimmer: „Babys lernen ihren Körper auch ohne Babyschwimmen kennen und sie kommunizieren auch wunderbar, wenn wir ihnen keine Zeichensprache beibringen“, so Renz-Polster.
Stärken der Kinder sehen
Besser sei es, Bildung und Entwicklung gemeinsam zu denken. „Kinder brauchen vor allem Beziehungen und genügend eigenes, freies Spiel fernab der Klingeltonreichweite der Eltern. Unter diesen Bedingungen können sie sich am ehesten zu kreativen, widerstandsfähigen und kompetenten Persönlichkeiten entwickeln. Denn jedes Kind besitzt den Trieb zur Selbsttätigkeit und Selbstwirksamkeit. Bei diesen Stärken muss man ansetzen, statt in jedem Kind einen Tyrannen oder ein Förderprojekt zu sehen“, betont der Experte.
Ansetzen müsse man jedoch auch bei den Rahmenbedingungen. Denn dass Kinder heute oft nicht in die Welt passen, geht für Renz-Polster auf die „brutale Entscheidung“ zurück, in die potenzielle Eltern oft gedrängt werden. „So radikal wie nie müssen Frauen zwischen Beruf oder Familie wählen. Zweiteres bedeutet oft genug, auf Status und soziale Anerkennung zu verzichten.“
Verlorenes Dorf braucht Ersatz
Dieser große Spagat zwischen den Ansprüchen sei in der Geschichte der Menschheit absolutes Novum. „Mütter konnten in der Erziehung stets mit der Hilfe ihres Stammes oder Dorfes rechnen oder das Kind bei der Arbeit weiter betreuen – Mutter sein und für den Unterhalt der Familie sorgen war kein Widerspruch.“
Heute sind die Helfer im Alltag rar geworden – kein Wunder also, dass Eltern überfordert sind. „Aber anstatt bessere Krippen und mehr Kinderbetreuung im Betrieb oder in Betriebsnähe zu verlangen, fordern wir einen Elternführerschein. Oder glauben uns als Gesellschaft mit Kindergeldzahlungen aus der Affäre ziehen zu können. Da läuft die Diskussion auf der falschen Ebene“, betont der Autor.
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