Bundesverfassungsgericht

Bundesverfassungsgericht prüft Griechenland-Hilfe und Euro-Rettungsschirm…

Während in der letzten Woche Griechenland sein Sparpaket beschloss und damit den Weg für weitere Euro [Glossar]-Hilfen ebnete, verhandelte heute, am 5. Juli 2011, das Bundesverfassungsgericht über Verfassungsbeschwerden gegen den Euro-Rettungsschirm und die im Jahr 2010 beschlossene Griechenland-Hilfe. Die Bundesregierung, vertreten durch Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble und Prozessbevollmächtigten Prof. Dr. Ulrich Häde, verteidigte die Entscheidungen der Bundesregierung zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-Rettungsschirm.

Lesen Sie hier den Eingangsvortrag von Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble als Vertreter der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zur Griechenlandhilfe und Euro-Stabilisierung am 5. Juli 2011:Bundesverfassungsgericht Eingangsvortrag von Bundesfinanzminister

Dr. Wolfgang Schäuble als Vertreter der Bundesregierung

Datum: 05.07.2011 10:00

Redner: BM Dr. Wolfgang Schäuble

Veranstaltungsort: Karlsruhe

Bundesverfassungsgericht; Quelle: panthermedia / Sigi Schritt

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Bundesverfassungsrichter,

mit dem verfassungsgerichtlichen Verfahren befinden wir uns in einem sensiblen Grenzgebiet zwischen internationaler Währungs- und Wirtschaftspolitik einerseits und Verfassungs- und Europarecht andererseits.

Seit Anfang 2010 stehen die Belastbarkeit und der Zusammenhalt der Eurozone und der Europäischen Union insgesamt auf dem Prüfstand. Unser System war hierauf nicht ausreichend vorbereitet.

Hochnervöse Finanz- und Kapitalmärkte stellen täglich aufs Neue die Frage, ob und inwieweit das spezifisch europäische Konstruktionsprinzip – nämlich eine Europäische Währungsunion ohne eine politische Union bei national definierten Haushalts-, Finanz- und Sozialpolitiken – funktionieren kann.

Diese Konstruktion spiegelt den Grundgedanken der Union wider, dass die wirtschaftliche Integration der politischen Integration vorausgeht. Seit den Anfängen der europäischen Einigung mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war die Vorgehensweise, durch begrenzte Einzelermächtigungen seitens der Mitgliedstaaten schrittweise handlungsfähigere europäische Institutionen herauszubilden, erfolgreich. Dabei bleiben die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“. Die nationalen Parlamente entscheiden über die partielle Abgabe von Souveränitätsrechten. Mit diesem Konstruktionsprinzip wurde die europäische Einigung wirtschaftlich und politisch eine Erfolgsgeschichte.

Da niemand einen europäischen Superstaat will, werden wir auch weiterhin an diesem Prinzip festhalten müssen. Angesichts der Herausforderungen der Globalisierung gibt es zur europäischen Einigung keine bessere ökonomische und keine bessere politische Alternative. Jedes einzelne europäische Land, auch die Bundesrepublik Deutschland – wir alle sind zu klein, um unseren Interessen, unserer Verantwortung in der globalisierten Welt gerecht zu werden.

Nach diesem Prinzip der beschränkten Aufgabe des Regelungsmonopols des Nationalstaates wurde auch die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion konzipiert: Unter Beibehaltung der nationalen Kompetenz für die Wirtschafts- und Finanzpolitik wurde die Geldpolitik der unabhängigen Europäischen Zentralbank übertragen. Zu der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament einerseits und unabhängiger Notenbank andererseits kommt zusätzlich eine vertikale Teilung zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene, mit der Geldpolitik auf europäischer und der Fiskalpolitik auf nationaler Ebene. Die aktuelle Staatsschuldenkrise hat uns gezeigt, dass wir vertikal eine stärkere Überwachung der verschiedenen nationalen Fiskalpolitiken in der Eurozone brauchen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt war bereits ein Schritt in diese Richtung, aber er hat in der bisherigen Form nicht ausgereicht.

Die Diskussionen um automatische Sanktionen sowie um das sogenannte europäische Semester im nationalen Haushaltsverfahren zeigen, wie schwierig es ist, die notwendige finanzpolitische Disziplin auf europäischer Ebene bei Wahrung des nationalen Haushaltsrechts sicherzustellen. Viele sehen automatische Sanktionen, die gerade auch von Kritikern der in Frage stehenden Entscheidungen gefordert werden, nicht als vereinbar mitnationalen Rechten an. Und auch beim europäischen Semester wird darauf geachtet, dass das Haushaltsrecht der nationalen Gesetzgeber nicht eingeschränkt wird.

Die derzeit zu beobachtenden Probleme dürfen nicht die fundamentalen Vorteile der Europäischen Währungsunion vergessen machen. Die Währungsunion ist ein Schritt zur Vertiefung des gemeinsamen Marktes. Wir Deutsche profitieren noch mehr als andere Europäer von der Währungsunion und vom gemeinsamen Binnenmarkt. Deutschland ist stärker in die internationale und europäische Arbeitsteilung eingebunden als alle anderen vergleichbaren Länder. Fast zwei Drittel unserer Exporte gehen in die Länder der Europäischen Union, allein 40 Prozent in die Eurozone. Mit einem Wachstum im vergangenen Jahr von 3,6 % haben wir einen Großteil des historischen Wachstumseinbruchs des Jahres 2009 von 4,7 % wieder aufgeholt. Dies wäre ohne die gemeinsame Währung, die uns vor krisenhaften Wechselkursschwankungen weitgehend bewahrt hat, nicht möglich gewesen.

Die Stabilität des Euro ist von überragender Bedeutung. Der äußere wie der innere Wert der europäischen Gemeinschaftswährung ist, auch Dank der ergriffenen Maßnahmen, beeindruckend stabil.

Bei der Formulierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurde die in der Finanz- und Bankenkrise 2008 sichtbar gewordene globale Vernetzung der Finanzmärkte in diesem Ausmaß nicht vorhergesehen. Sie konnte so auch nicht vorhergesehen werden, denn sie hat entscheidend mit dem immensen Fortschritt in der Kommunikationstechnologie zu tun und damit, dass die Märkte inzwischen im Sekundentakt weltweit miteinander verbunden sind. Eine Staatsschuldenkrise in einem Euro-Teilnehmerstaat ist auf den Finanzmärkten keine rein europäische Angelegenheit, das merken wir auch an den Rückmeldungen unserer außereuropäischen Partner. Der potentielle Ausfall eines staatlichen Schuldners stellt sofort die Frage nach den wirtschaftlichen Folgen für seine Gläubiger innerhalb und außerhalb Europas. Und dann kommen auch die Zweitrundeneffekte entscheidend hinzu, die wirtschaftlichen Folgen für die Geschäftspartner der Gläubiger. Und als Drittrundeneffekte bezeichnet man die negativen Auswirkungen auf andere Euro-Länder, die im Zweifel durch sinkendes Vertrauen auf den Weltfinanzmärkten in den Euro zu höheren Refinanzierungskosten führen – für den Bundesfinanzminister, der in diesem Jahr über 300 Milliarden Euro auf den Märkten platzieren muss, auch keine Kleinigkeit.

Es lassen sich die potentiellen Auswirkungen auf die finanzielle Systemstabilität ex ante nicht genau bemessen. Aufsichtsbehörden und Zentralbanken wissen zwar eine Menge über die von den maßgeblichen Akteuren gehaltenen Risiken und über die weltweiten Verflechtungen der Akteure. Aber es existiert weder eine globale Superbehörde, die zu jedem Zeitpunkt über alle Transaktionen im Bilde ist, noch lassen sich Geschäfte außerhalb von organisierten Börsen immer voll erfassen und bewerten. Wenn – wie bei Griechenland im ersten Halbjahr 2010 – Markteinschätzungen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit in einem wenig robusten Marktumfeld auftreten, dann stellt sich für die Regierungen die Frage, ob es verantwortbar ist, die Belastbarkeit der Märkte in dieser Situation zu testen. Viele Experten fürchten, dass ein unkontrollierter Default größere Auswirkungen haben könnte als die Bankenkrise 2008. Und damals musste allein in Deutschland mit einem Garantiefonds von 500 Milliarden Euro die Funktionsfähigkeit des Finanzwesens sicher gestellt werden. Und trotz massiver konjunktureller Gegensteuerung konnte ein Rückgang des BIP um 4,7% mit einem dramatischen Anstieg der öffentlichen Neuverschuldung nicht vermieden werden.

Ein zweiter Punkt ist zu beachten: Neben dem Stabilitäts- und Wachstumspakt hat man zu lange darauf vertraut, dass unterschiedliche Zinssätze genug Anreiz und Sanktion für solide nationale Finanzpolitik sein würden. Aber lange Zeit haben sich keine hinreichend großen Zins-Aufschläge herausgebildet. Das mag an Fehleinschätzungen der Marktteilnehmer über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der heutigen Krisenstaaten gelegen haben. Im Fall Griechenlands kommt gewiss auch hinzu, dass die veröffentlichten Defizitzahlen falsch waren. Es spielte aber auch eine Rolle, dass viele Marktakteure geglaubt haben, wenn es kritisch wird, dann springen am Ende doch andere ein.

Man mag das für irrational halten. Aber dadurch konnten sich bestimmte Länder billiger und stärker verschulden als dies bei hinreichend großen Zinsspreads der Fall gewesen wäre.

Erst viel zu spät reagierten die Zinsspreads auf Fehlentwicklungen und dann gleich sehr heftig. Aus globaler Vernetzung der Finanzmärkte und einem gewissen Herdenverhalten folgte das systemische Risiko, d. h. die Gefahr der Ansteckung anderer Länder der Eurozone durch die Schuldenkrise eines Landes. Ausgelöst wurde das nicht zuletzt durch die Korrekturen am griechischen Zahlenwerk. Begünstigt wurde es durch die Ausläufer der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und die Sorge, dass manche Staaten mit Einstandsverpflichtungen gegenüber Finanzinstituten überfordert sein könnten. Ansteckungsgefahren bestehen allein auch aus der Einschätzung, dass mit dem Erklären der Zahlungsunfähigkeit in einem Euro-Teilnehmer­staat ein Präzedenzfall für andere entstehen könnte.

Das ist die Erfahrung des vergangenen Jahres gewesen, und deswegen arbeiten wir daran, diese Ansteckungsgefahr und damit die Gefährdung der Stabilität der Eurozone insgesamt zu verringern.

Die Gefahr solcher Ansteckungen, die sich aufgrund der Vernetzung der modernen Finanzmärkte kurzfristig über Zinsaufschläge für Staatsanleihen oder explodierende Preise für Kreditausfallversicherungen (CDS) der betroffenen Länder weiterverbreiten, begründete die Notwendigkeit, im April 2010 Griechenland mit koordinierten bilateralen Krediten zu helfen.

Bis zum Zustandekommen der Entscheidungen waren die Ansteckungsprozesse dramatisch weitergegangen. Deshalb musste der vorläufige Europäische Rettungsschirm sehr kurzfristig unter Beteiligung des IWF mit einem Kreditvolumen von insgesamt 750 Mrd. Euro geschaffen werden. Im Übrigen weist der EFSM, der 60 Milliarden aus den EU 27 zu den 440 Milliarden der Eurogruppe beisteuert, auf eine Systemlücke hin. In Art. 143 AEUV ist in der EU 27 ein „gegenseitiger Beistand“ möglich, wenn ein Mitglied Zahlungsbilanz- oder Devisenprobleme hat und der Binnenmarkt gefährdet ist. Mit dem Aufbau eines permanenten Rettungsschirms ab 2013 wollen wir diesen Solidaritätsgedanken auf die Währungsunion übertragen.

Damit einzelne Mitgliedstaaten zukünftig rechtzeitig ihre Strukturprobleme lösen und nicht erst im Rahmen eines notwendigen ad hoc-Programmes dazu gedrängt werden müssen, verschärfen wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt, intensivieren die wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung und verbessern die Wettbewerbsfähigkeit aller Länder durch den – auf deutsche Initiative – geschaffenen Euro-Plus-Pakt.

Eine gemeinsame Währung kommt nicht ohne Solidarität der Mitglieder aus – Solidarität, die an klare Regeln gebunden sein muss und die sich nicht auf eine Beistandsverpflichtung beschränkt, sondern genauso darauf gerichtet sein muss, die Ursachen der Probleme zu beseitigen.

Ursachen zu beseitigen heißt, dass die Länder mit hohen Schulden und Defiziten ihre Haushalte konsolidieren und ihre strukturellen Wachstumshindernisse beseitigen müssen. Damit die Reformen wirken, brauchen die Länder Zeit. Zeit, die die Finanzmärkte diesen Ländern nicht geben, und die ihnen deshalb die Staaten Europas durch finanzielle Hilfen verschaffen, die an strikte Konditionen gebunden sind.

Wie strikt diese Konditionen sind, wird durch die Tatsache belegt, wie lange sich Euroländer mit Problemen (Irland, Portugal) gegen eine Aufnahme unter den Europäischen Rettungsschirm gewehrt haben, so dass sie angesichts der systemischen Ansteckungsgefahr und der Gefahr für die Stabilität der Eurozone insgesamt fast schon gedrängt werden mussten. Griechenland muss sehr harte Konditionen erfüllen. Das Land hat schon schmerzhafte Einschnitte vorgenommen und muss noch mehr tun.

Ein tragender Gedanke des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungs-gerichtes zur fortschreitenden EU-Integration war die Beachtung des Demokratieprinzips. Die Legitimation und Einflussnahme durch das Volk muss gesichert bleiben. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht besonders die Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente betont. In Deutschland wird keine maßgebliche Regelung zur Stabilisierung der Eurozone ohne die Zustimmung des Parlaments beschlossen. Das gilt für die Verlängerung der von der KfW an Griechenland ausgereichten Kredite genauso wie für die parlamentarische Entscheidung nach dem Stabilitätsmechanismusgesetz.

Nur als geeintes Europa können wir unsere Interessen durchsetzen und der Verantwortung Deutschlands und Europas im 21. Jahrhundert gerecht werden. Eine stabile gemeinsame europäische Währung ist ein wesentliches Element, um die wirtschaftliche Leistungskraft aller Mitgliedstaaten zu fördern. Zugleich ist sie ein wesentlicher Beitrag Europas zu mehr globaler Stabilität. Der Euro ist längst eine weltweit geschätzte Reservewährung und angesichts der Probleme und Spannungen in anderen Teilen der Welt von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Die ganze Welt ist an Stabilität interessiert. Mit dem Euro leistet Europa einen Beitrag zu globaler Stabilität. Mit unserem Beitrag zur Sicherung der Stabilität der gemeinsamen Währung erfüllt Deutschland – auf die wirtschaftliche Lage im 21. Jahrhundert bezogen – den Auftrag der Präambel unseres Grundgesetzes, nämlich – ich zitiere – „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

 Bundesministerium der Finanzen