KIEL. Die größte Bedrohung für die innere Sicherheit geht nach wie vor vom islamistischen Terrorismus aus. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle schleswig-holsteinische Verfassungsschutzbericht, den Innenminister Klaus Schlie am Dienstag (3. Mai) vor der Presse in Kiel vorstellte. Eine weiterhin hohe Gewaltorientierung von Linksextremisten sowie rückläufige Mitgliederzahlen und weniger öffentliche Präsenz im rechtsextremistischen Lager sind weitere Erkenntnisse, die die Verfassungsschutzabteilung im Innenministerium in ihrem Jahresbericht zusammengetragen hat. Kein Grund zur Entwarnung – Szene gut im Blick – Problem: Anonyme Einzeltäter
„Ein Jahr ohne spektakuläre Ereignisse in Schleswig-Holstein ist kein Grund für eine Entwarnung“, sagte Schlie. Die Lage bleibe angespannt und erfordere hohe Wachsamkeit. Der Verfassungsschutz des Landes habe einen guten Einblick in die einzelnen Szenen von rechts über links bis zum Ausländerextremismus. „Es liegt auf der Hand, dass die Sicherheitsbehörden mehr wissen, als im Verfassungsschutzbericht veröffentlicht werden kann“, sagte der Minister. Ein Problem seien so genannte Einzeltäter, die keiner Gruppierung oder Organisation angehörten und plötzlich aus der Anonymität herauskämen.
Weniger Rechtsextremisten, weniger öffentliche Präsenz
Der Verfassungsschutz zählte im vergangenen Jahr in Schleswig-Holstein 1.455 Rechtsextremisten, 115 weniger als 2009. Den stärksten Einbruch bei den Mitgliederzahlen verzeichnete die subkulturell geprägte Szene. Sie verlor 105 Mitglieder und kommt aktuell auf 640 Aktivisten. 2008 gehörten ihr noch 760 Personen an. Zeitgleich mit dem Mitgliederschwund nahm auch die öffentliche Präsenz der Rechtsextremisten ab. „Es gibt eine erkennbar nachlassende Politisierung im rechtsextremistischen Spektrum“, sagte Schlie.
NPD bedeutende Kraft im Rechtsextremismus, aber wenig attraktiv
Die NPD bleibt nach Aussage des Ministers trotz eines geringen Mitgliederrückgangs von 230 auf 220 Personen die bedeutendste politische Kraft im Rechtsextremismus. „Die Partei beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst“, sagte Schlie. Außerhalb des rechtsextremen Spektrums finde die NPD keinen wesentlichen Anklang. Versuche, mit Hilfe einer Wiederbelebung der „Jungen Nationaldemokraten“, der Jugendorganisation der NPD, neue Anhänger zu rekrutieren, seien bislang nur mäßig erfolgreich.
Rechtsautonome: Auflösungstendenzen, aber immer noch ernste Größe
In den rund zehn rechtsautonomen Aktionsgruppen aus dem Spektrum der Neonazis gab es im vergangenen Jahr vermehrt Auflösungstendenzen. „Der Zustand dieser oft gewaltbereiten Gruppen ist ziemlich ungeordnet“, sagte Schlie. Im Vergleich zu den früheren Kameradschaften fehle es an klaren Strukturen und einer gefestigten weltanschaulichen Ausrichtung. Die über das ganze Land verteilten Aktionsgruppen, die üblicherweise zwischen fünf und 30 Mitglieder hätten, seien jedoch nicht zu unterschätzen. Ein Umfeld von Unterstützern und spontane Mitläufer machten die Aktionsgruppen zu einer ernst zu nehmenden Größe im rechtsextremistischen Lager.
Linksextremisten mit unverändert hoher Gewaltorientierung
Die linksextremistische Szene fällt weiterhin durch eine hohe Gewaltorientierung auf. 64 Gewalttaten werden ihr im Jahr 2010 zur Last gelegt, das sind lediglich drei weniger als 2009 und deutlich mehr als 2008 (43 Gewalttaten) und 2007 (38 Gewalttaten). Die Attacken richten sich gegen Rechtsextremisten, aber immer häufiger auch gegen Polizeibeamte. Gerade in der Auseinandersetzung mit der Polizei kommt nach Aussage des Ministers die Ablehnung des Gewaltmonopols des Staates zum Ausdruck. „Der Staat und alle Demokraten werden den Verfassungsfeinden von links weiterhin zeigen, dass die Regeln des Rechtsstaats gelten und nicht die Diktatur der Straße“, sagte Schlie. Linksextremistische Gewalttaten waren überwiegend in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremisten zu beobachten. Von den 830 Linksextremisten in Schleswig-Holstein werden 330 Personen dem gewaltorientierten Spektrum zugeordnet.
Gewaltverzicht ist nur taktisch motiviert
Die Szene ist nach Beobachtung des Verfassungsschutzes in der Lage, Anhänger und Sympathisanten zu bestimmten Anlässen sehr rasch zu organisieren und zu mobilisieren. Die linksextremistische Szene versuche für Kampagnen immer wieder, Bündnisse mit Personengruppen einzugehen, die nicht zum extremistischen Spektrum gehörten. „Die Linksextremisten säuseln was von Gewaltfreiheit und antifaschistischem Kampf, um demokratische und friedliche Organisationen als Kulisse für Demonstration zu gewinnen“, sagte Schlie. Der Gewaltverzicht sei aber nur taktisch motiviert. Im Umfeld von Demonstrationen komme es dann häufig doch zu Gewalttaten. Ein Beispiel hierfür sei Lübeck. Hier nutze das gewaltorientierte linksextremistische Spektrum alljährlich die Veranstaltungen der Rechtsextremisten aus Anlass des Jahrestages der Bombardierung Lübecks durch die britische Luftwaffe im März 1942 als Agitationsbühne.
Keine festen islamistisch terroristischen Strukturen in Schleswig-Holstein
Die Bedrohung Deutschlands durch den islamistischen Terrorismus ist nach Aussage von Schlie weiter sehr hoch. „Al Qaida hält an dem Ziel fest, die westliche Welt zu schwächen und zu destabilisieren“, sagte Schlie. Auch wenn islamistisch motivierte terroristische Strukturen in Schleswig-Holstein nicht festgestellt werden konnten, so gebe es nach wie vor zu einer Reihe von Personen im Land Anhaltspunkte für Kontakte unterschiedlicher Art und Qualität zum jihadistischen Spektrum.
Salafismus – ein Nährboden für Radikalisierung
Bei der jihadistischen Radikalisierung spiele die andauernde Verbreitung der salafistischen Ideologie eine entscheidende Rolle. Vor allem junge Muslime und junge Islam-Konvertiten, die sich in schwierigen Lebenssituationen oder Entwicklungsphasen befänden, seien dafür empfänglich. „Der Salafismus scheint mit seinen Regeln und Normen diesen Personen zwar einen gewissen Halt zu bieten, aber gleichzeitig bildet er den Nährboden für eine weitere Radikalisierung“, sagte Schlie. Die Entwicklung des salafistischen Spektrums in Schleswig-Holstein werde weiterhin mit besonderer Sorgfalt beobachtet.
Netzwerk „Ansar al-Islam“ hat auch in Schleswig-Holstein Kontaktpersonen
Das gelte auch für das Netzwerk „Ansar al-Islam“ (AAI). Die als terroristische Vereinigung eingestufte AAI ist eine im Nordosten des Irak ansässige Organisation, die die Errichtung eines islamistischen Staatswesens im Irak anstrebt. In Schleswig-Holstein gibt es Anhaltspunkte dafür, dass einzelne Personen entsprechende Kontakte zu diesem irakisch-kurdischen Netzwerk haben.
Milli Görüs wirbt mit sozialen Angeboten um Mitglieder
Neben den Salafisten ist vor allem die türkisch geprägte, „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG) in Schleswig Holstein aktiv. Sie ist mit mehreren hundert Mitgliedern und größeren Vereinen unter anderem in Kiel und Rendsburg vertreten. Organisatorisch sind in den Vereinen die Strukturen der IGMG erkennbar. Verschiedene soziale Angebote, wie kostenloser Nachhilfeunterricht für Kinder oder Koranunterricht, der getrennt nach Geschlechtern durchgeführt wird, sollen schon früh eine enge Bindung an die Organisation erreichen.
Rendsburger Moschee spielt keine zentrale Rolle bei Milli Görüs
Das der IGMG zugehörige, in seiner Vereinsarbeit sehr aktive „Islamische Zentrum e.V.“ Rendsburg (IZR) stand wiederholt im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die Annahme, dass IZR würde durch den Moscheeneubau eine überregionale beziehungsweise eine zentrale Position innerhalb der IGMG einnehmen, hat sich bisher nicht bestätigt.
Mitgliederentwicklung der rechtsextremistischen Organisationen und Gruppierungen in Schleswig-Holstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010
2008 2009 2010
NPD/JN
2008 = 240
2009 = 230
2010 = 220
DVU
2008 = 210
2009 = 210
2010 = 200
Sonstige…
…nicht neo-nationalsozialistische Rechtsextremisten 2008 = 100, 2009 = 100, 2010 = 100
…überwiegend neo-nationalsozialistisch orientierte Rechtsextremisten 2008 = 110, 2009 = 180, 2010 = 180
Subkulturell geprägte und sonstige als gewaltbereit eingeschätzte Rechtsextremisten 2008 = 760, 2009 = 735, 2010 = 640
Gesamt Land* 2008 = 1.420, 2009 = 1.455, 2010 = 1.340
Gesamt Bund* 2008 = 30.000, 2009 = 26.600, 2010 = 25.000
*Nach Abzug so genannter Doppelmitgliedschaften
Mitgliederentwicklung der linksextremistischen Organisationen und Gruppierungen in Schleswig-Holstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010
Marxisten-Leninisten und sonstige revolutionäre Marxisten (dogmatischer Linksextremismus) 2008 = 500, 2009 = 500, 2010 = 500
Gewaltorientierte undogmatische Linksextremisten 2008 = 350, 2009 = 330, 2010 = 330
Gesamt Land 2008 = 850, 2009 = 830, 2010 = 830
Gesamt Bund 2008 = 31.200, 2009 = 31.600, 2010 = 32.200
Entwicklung der Mitglieder-/Anhängerzahlen der extremistischen Ausländerorganisationen in Schleswig-Holstein und Gesamtentwicklung im Bundesgebiet 2008 bis 2010
Türkische Organisationen
* linksextremistische Gruppen 50 * *
* islamistische Gruppen 2008 = 470, 2009 = 490, 2010 = 490
* extrem-nationalistische Gruppen 2008 = 420, 2009 = 400, 2010 = 400
Kurdische Organisationen 2008 = 650, 2009 = 650, 2010 = 650
Iranische Organisationen 2008 = 25, 2009 = 25, 2010 = 25
Arabische Organisationen sowie nicht eindeutig zuzuordnende Einzelpersonen aus dem Spektrum arabischer Islamisten 2008 = 85, 2009 = 95, 2010 = 110
Gesamt Land 2008 = 1.700, 2009 = 1.660, 2010 = 1.675
Gesamt Bund 2008 = 59.470, 2009 = 60.980, 2010 = 62.380
* Es sind nur noch Einzelmitglieder vorhanden, deren Anzahl nicht konkret beziffert werden kann.
Politisch motivierte Kriminalität – PMK
2006 2007 2008 2009 2010 Veränderung
PMK Links
PMK 2006 = 77, 2007 = 198, 2008 = 204, 2009 = 244, 2010 = 167, -77
PMK Gewalt 2006 = 41, 2007 = 38, 2008 = 43, 2009 = 67, 2010 = 64, -3
Gesamt 2006 = 118, 2007 = 236, 2008 = 247, 2009 = 311, 2010 = 231, -80
PMK Rechts
PMK 2006 = 445, 2007 = 381, 2008 = 710*, 2009 = 708*, 2010 = 623*, -85
PMK Gewalt 2006 = 65, 2007 = 59, 2008 = 46, 2009 = 60, 2010 = 37, -23
Gesamt 2006 = 510, 2007 = 440, 2008 = 756, 2009 = 768, 2010 = 660, -108
PMK Ausländer
PMK 2006 = 11, 2007 = 11, 2008 = 11, 2009 = 8, 2010 = 2, -6
PMK Gewalt 2006 = 2, 2007 = 1, 2008 = 2, 2009 = 2, 2010 = 1, -1
Gesamt 2006 = 13, 2007 = 14, 2008 = 14, 2009 = 11, 2010 = 6, -5
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