Über dreihundert Besucher waren am gestrigen Mittwoch in die Hamburger Handwerkskammer gekommen, um die Tagung des Deutschen Ethikrates zum Thema „Demenz – Ende der Selbstbestimmung?“ zu verfolgen.
In ihrem Grußwort dankte Angelika Kempfert, Staatsrätin der Hamburger Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, dem Deutschen Ethikrat, dass er das Thema Demenz zu einem seiner Arbeitsschwerpunkte erklärt habe. Sie würdigte damit den wertvollen Beitrag, den der Ethikrat leiste, diese schwere Erkrankung in den Fokus der öffentlichen Diskussion zu rücken.Auch der Moderator der Tagung, Ratsmitglied Michael Wunder, betonte die Aktualität der Thematik. Insbesondere gehe es um den Paradigmenwechsel, sich in der Demenzdebatte weniger an den Defiziten als vielmehr an den Potenzialen zu orientieren und zu veranschaulichen, dass die Betroffenen in der Mitte der Gesellschaft leben können und sollen.
Ursula Lehr, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen BAGSO e. V., umriss in ihrem Referat die Herausforderungen, die die demenzielle Erkrankung in einer alternden Welt für den Einzelnen und die Gesellschaft mit sich bringe: möglichst gesund und kompetent alt zu werden und dabei die Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Lebensqualität möglichst lange zu erhalten und auf diese Weise ein würdevolles Alter zu gestalten. Eine besondere Rolle spiele dabei die Stärkung der professionellen Hilfe, Pflege und Versorgung sowie die Früherkennung und die Prävention durch körperliche, seelisch-geistige und soziale Aktivität.
Für ein tieferes Verständnis von Lebensqualität sowie der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung seien, so Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, drei anthropologische Merkmale bedeutsam: die Mitteilungs-, die Handlungs- und die Empathiefähigkeit. Selbst an fortgeschrittener Demenz erkrankte Menschen verfügten noch über eine, wenngleich begrenzte Selbstbestimmungsfähigkeit und könnten bei entsprechender Kommunikations- und Umgebungsgestaltung in vielerlei Hinsicht Selbstverantwortung für ihr Leben übernehmen. Kruse zufolge kommt es darauf an, die emotionalen, sozial-kommunikativen und alltagspraktischen Fähigkeiten als Ressourcen zu erkennen. Jede Form von Eigenaktivität und Empathie sei aufzugreifen und positiv zu verstärken und dadurch die Fähigkeit von Demenz-Betroffenen zu fördern und zu nutzen.
Rolf-Dieter Hirsch, Chefarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie der Rheinischen Landesklinik Bonn, nahm das Thema Forschung mit Menschen mit Demenz in den Blick. Hirsch konstatierte, dass wir derzeit noch nicht in der Lage seien, den Verlauf jeder einzelnen Demenz nachhaltig zu beeinflussen. Die Forschung müsse sich daher verstärkt der Krankheitsentstehung, Behandlung, Rehabilitation und Prävention zuwenden. Er plädierte zudem für eine biopsychosoziale Sichtweise, die Demenzen ganzheitlich und in ihrer individuellen Vielfalt wahrnimmt, und eine Forschung, an der alle wissenschaftlichen Disziplinen beteiligt werden.
Margot Lucke, ehemalige Gutachterin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen, nahm die Defizite der Pflege im häuslichen und stationären Bereich in den Blick. Angehörige seien den mit der ambulanten Pflege verbundenen Anforderungen oft nicht gewachsen. In der stationären Pflege seien nur wenige Einrichtungen in der Lage, die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz in vollem Umfang zu erkennen und mit geeigneten Konzepten deren Selbstbestimmung zu wahren. Geeignetes Personal und geriatrisch bzw. gerontopsychiatrisch versierte Hausärzte fehlten. Zudem binde die geforderte Dokumentation nach Pflegestandards mehr als 30 Prozent der Arbeitszeit der gut ausgebildeten Pflegekräfte. Lucke schlug vor, motivierte Pensionäre zu mehr bürgerschaftlichem Engagement zu bewegen, Hausärzte verstärkt für die Diagnostik, Therapie und Betreuung von Menschen mit Demenz zu qualifizieren und ein Pflegepraktikum in die Medizinerausbildung zu integrieren.
Mit dem Titel „Wir sprechen für uns selbst!“ war die anschließende Gesprächsrunde mit Peter Wißmann, dem Leiter der Demenz Support Stuttgart und Stellvertretenden Vorsitzenden der Aktion Demenz e. V., der ehemaligen Übersetzerin und Demenz-Betroffenen Helga Rohra, und dem früheren Unternehmer und Alzheimer-Betroffenen Christian Zimmermann überschrieben. Im Gegensatz zu den meisten Menschen mit Demenzdiagnose, die sich scheuen, öffentlich darüber zu sprechen, gehören Rohra und Zimmermann zu den bisher wenigen Menschen, die sich offensiv an die Öffentlichkeit wenden, weil Demenz vor allem eine soziale Erfahrung sei. Sie wünschten sich, dass man die Betroffenen neben der professionellen Pflege, den Angehörigen und bürgerschaftlich engagierten Menschen als vierten Akteur in den Umgang mit Demenzerkrankungen integrieren sollte.
Otfried Höffe, Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen und Präsident der Nationalen Ethikkommission der Schweiz, referierte über das Thema „In Würde altern“. Bei seiner Betrachtung des Alters warf er einen Blick zurück in die Geschichte und stellte fest, dass weder das Altern noch die Reflexion darüber und auch nicht die Entwicklung von Strategien, die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern, neu, sondern bereits in der vorakademischen Altersforschung, beginnend in der Antike, zu finden seien. Zitate von Cicero, Voltaire, Jacob Grimm, Ernst Bloch und Hermann Hesse zeigten, so Höffe, dass man das Altern lernen könne und müsse.
Das Publikum konnte sich im Verlauf der Tagung über Publikumsanwälte an den Diskussionen beteiligen. Im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses standen Fragen nach der Einbindung der Expertise der Angehörigen, der Verzahnung der medizinischen Fachdisziplinen, der Qualifikation der Betreuer, der fachärztlichen Versorgung in Pflegeheimen, der Fortbildung von Hausärzten und alternativen Wohnformen.
Deutscher Ethikrat